Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

29 Lesen Sie die folgenden vier Texte bzw. Textauszüge und diskutieren Sie mit Ihren Mitschülerinnen und Mitschülern: In welchen Texten finden sich Elemente verschiedener Textsorten? Welche Texte sind eindeutig einer Textsorte zuzuordnen? Stellen Sie auch Vermutungen darüber an, in welchen Medien (Zeitung, Sachbuch, Jugendzeitschrift, …) der Text erschienen sein könnte. Erörterung Eine Erörterung ist eine Auseinandersetzung mit einem Thema (eines Textes), indem man zu diesem Thema (Text) Stellung bezieht. Meist handelt es sich bei diesen Themen um aktuelle Streitfragen , auf die in der Einleitung der Erörterung hingeführt wird. Wesentlich bei einer Erörterung ist, dass unterschied- liche Standpunkte beleuchtet und gegeneinander abgewogen werden (= Hauptteil der Arbeit), sodass man am Ende zu einem gut begründeten Urteil (das allerdings auch in einer Zwischenlösung bestehen kann) gelangt. Meinungsrede Meinungsreden sind begründete Stellungnahmen zu einem – meist strittigen – Thema. Obwohl die Meinungsrede schriftlich verfasst wird, orientiert sie sich am Mündlichen, das heißt, sie verzichtet auf komplexe Sätze sowie anspruchsvolle Wortwahl und achtet darauf, gut und leicht verständlich zu bleiben. Dies wird auch durch den Einsatz von rhetorischen Figuren (zum Beispiel Antithesen, Wiederholungen, bewusste Steigerungen, starke Bildlichkeit bzw. Metaphorik) erreicht. Meinungsreden haben meist auch einen appellativen Charakter , das heißt, dass man nicht nur seine Meinung äußert, sondern auch erreichen möchte, dass die Leserinnen und Leser die Meinung teilen. Text 1 Früher, als es die Stiftung Lesen 1 noch nicht gab, schick- te der Herr ab und zu eine Botschaft aus dem Himmel, um die Erdbewohner zur Lektüre anzuhalten. Tolle, lege – Nimm und lies!, ermahnte eine rätselhafte Stimme den jungen Philosophen Augustinus, als dieser, zer- knirscht wegen seiner Sünden, weinend unterm Feigen- baum saß. Augustinus stand auf und las. Augenblicklich durchflutete das „Licht der Zuversicht“ sein Herz. Es war der Anfang einer großen Liebe. Das stille Lesen – eines der großen weltumstürzenden Wunder. Doch was taugt ein Weltwunder, das heute niemand mehr will? Was taugt eine Liebe, zu der man Leser, Bil- dungsreformer und Meinungsmacher inzwischen er- mahnen und antreiben muss wie lahme Esel? Die schlimme Nachricht heißt: Nur noch sechs Prozent aller Deutschen greifen abends lieber zum Buch als zur TV- Fernbedienung. Das klingt zwar nach Bildungsapoka- lypse und Untergang des Abendlandes. Allerdings: Viel mehr Leser werden es zu Augustinus’ Zeiten auch nicht gewesen sein. Die Probleme, die uns heute beschäftigen, sind nicht ganz neu. Kerner beliebter als Kleist? Wickert bekannter als Wieland? Auch damals wird es irgendei- nen drahtigen Ansager gegeben haben, der die stam- mesfürstlichen Bulletins ausschrie. Und auch ihn wird man heftig verehrt haben. Das Weltwunder Lesen war immer etwas für wenige. Bis die Aufklärung kam und eine grandiose Idee hatte: Gleichheit, Brüderlichkeit, Freiheit für alle – auch in der Erziehung. Folgt man der Idee, ist ein Verleger, der lie- ber Bücher über Steuertricks als Gedichte verlegt, ein kulturloser Geschäftemacher und sind Eltern, die ihr Automobil zwar vorbildlich parken, ihre Kinder aber blindlings vor dem Fernseher absetzen, gewissenlose Kinderverderber. Wie gesagt, eine großartige Idee. Leider versagt sie in der Praxis. Denn in ihr kippen Fernseh- und Rundfunkintendanten ihre Kultursen- dungen haufenweise auf denMüll, steigt die Produktion von primitiven Wegwerfbüchern von Jahr zu Jahr, ver- bringen immer kleinere Kinder immer mehr Zeit vor dem Fernseher, sinkt die so genannte Lesekompetenz nicht nur der Kinder. Politiker lassen nicht nur schrei- ben, sondern auch lesen, und die meisten ihrer Wähler können sich allenfalls noch auf Kürzesttexte konzen- trieren. Was soll man machen? Lesen kann man nicht befehlen, nicht mit erhobenem Zeigefinger und auch nicht mit Appellen. Wie sollten die denn aussehen? Soll man lesen, um dem Kulturbür- gertum anzugehören und einen Sonnenaufgang brav im Stil von Thomas Mann mit dem Rosenrot im griechi- schen Götterhimmel vergleichen zu können? Soll man lesen, um seine Eheprobleme zu lösen oder gar um in der multimedialen Gesellschaft mitzuhalten? Das alles wird nicht verfangen. Sowohl die bildungsbürgerliche wie die alltagspsycho- logische und die medienkompetente Aufforderung zum Lesen haben wenig bewirkt. In Wirklichkeit gilt: Litera- tur kann nur durch sich selbst überzeugen. Sie ist nicht dazu da, Lebenswirklichkeiten nachzuplappern, zu überhöhen oder Berufskarrieren zu begründen. Sie ist etwas Ernsteres. Sie ist eine echte Alternative, keine Flucht vor der Wirklichkeit, sondern eine Gegenwirk- lichkeit, mancher sagt: die eigentliche Wirklichkeit. Nur in großer Literatur sind vergangene Zeiten gegenwärtig, 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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