Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

185 Ordnen Sie in der Gruppe den vier Texten jeweils folgende Schlagworte zu: z.T. ironische Interpretation erster visueller Eindrücke; Gefühl, in seiner Existenz ein „Stück Papier“ geworden zu sein; Erstaunen über bisher ungewohntes Verhalten anderer; kindliche Freude nach der Ankunft, aber auch Unverständnis, bisher gesellschaftlich-ideologisch „Gelerntes“ aufgeben zu müssen; Rückblick auf erste Jahre des „neuen“ Lebens; Dankbarkeit gegenüber der Zivilcourage Einzelner. Fassen Sie auf Basis dieser Zuordnung im Gruppengespräch die in den vier „Ankunftstexten“ geschilderte Situation des Erzählers/der Erzählerin zusammen und vergleichen Sie diese. Erläutern Sie die aus den Texten erkennbare Stimmung des jeweiligen „Ich“. Beschreiben Sie, wie sich das Erzählerinnen-Ich aus Text 5 nach „39 Jahren“ in Wien fühlt. Dimitré Dinev: Aus dem Essay „Wie sicher ist der Frieden in Europa?“ (2010) Ich soll über den Frieden schreiben, dabei gehöre ich selbst zu jener Gruppe, die als Bedrohung des Friedens angesehen wird: zu der Gruppe der Migranten, der Fremden, der Ausländer. Lange Zeit war der einzige Be- weis meiner Existenz ein maschinegeschriebenes Blatt Papier mit einem Foto darauf, das vor einer der Wände im Lager Traiskirchen von mir gemacht wurde. Aber was soll‘s? Die Existenz eines Autors war immer schon von Papier abhängig. […] Dass ich noch immer hier bin, Julya Rabinowich: Aus dem Roman „Spaltkopf “ (2011) Ich sitze mit meinen Eltern, meiner Großmutter Ada und meiner Puppe im Flugzeug. […] Die Mozartkugel in meiner Hand schmilzt, aber das bunte Papier er- scheint mir zu wertvoll, um es aufzureißen, ich habe so etwas noch nie gesehen. Ich bin überzeugt von der Rich- tungsangabe meiner Eltern: Wir befinden uns auf einer Urlaubsfahrt Richtung Litauen. Kurz vor der Landung entstehen darüber Meinungsverschiedenheiten: Ein an- deres Kind ist nicht von der fixen Idee abzubringen, dass wir nach Wien fliegen. Ich soll unrecht behalten. Das Klo ist ein Palast und die Kaugummiautomaten Versprechen einer neuen schönenWelt. […] Mein Vater und ich bekommen einen Nervenzusammenbruch, weil er mir im Laufe eines einzigen Abends drei Jahre Kom- munismussozialisation austreiben will und ich es nicht fassen kann, dass Lenin, der Freund aller Kinder, dessen Anstecker noch immer an meinem Kleid prangt (im Reisefieber untergegangen), ein Arschloch sein soll. Julya Rabinowich: 39 Jahre und kein bisschen leise Je länger unsere Beziehung andauerte und je beständi- ger sie wurde, als umso treuere Seele hat sich Wien für uns entpuppt. Seit dieser Woche sind wir genau 39 Jahre in Wien. Ein kurzer Zeitraum für eine Schildkröte, aber ein langer für ein ehemaliges Kind. Ich habe Wien er- kundet, erschnüffelt, gekostet. Ich habe Wien gelernt und verdaut. Ich habe Wien verstanden (jedenfalls an- satzweise), und ich habe Wien lieb gewonnen. Wien ist mir tierisch auf die Nerven gegangen, Wien hat mich umarmt und mir ans Bein gepinkelt. Wien hat sich, je länger unsere Beziehung andauerte und je beständiger sie wurde, als umso treuere Seele entpuppt. Wien hat mir einen Arschtritt verpasst, einen Zungenkuss und eine Musenumarmung. Ich wohnte in den unterschied- verdanke ich weder dem Gesetz noch dem Staat. Das Glück, dass in all diesen Jahren meine Existenz nicht zerbrochen ist, dass ich nicht verzweifelt bin, dass ich überlebt habe, verdanke ich jenen unendlichen, unge- ahnten Ressourcen an Güte und Barmherzigkeit, die jenseits des Rechts und sogar, ohne dieses Recht zu bre- chen, jeder Person zur Verfügung stehen. Ich verdanke es einzelnen Personen, ich verdanke es der Macht der Einzelnen. Eine Macht, die unabhängig ist von Her- kunft, Beruf und gesellschaftlicher Stellung. Was mein Vater nicht schafft, bewirkt der Anblick einer Barbiepuppe. In fünf Minuten. Ich bin vom Westen überzeugt. Ich soll es lange bleiben. Jahre später noch kann ich mich kaum daran erinnern, nicht hier geboren worden zu sein. Ich bin bereit, ein besseres Deutsch zu sprechen als meine Klassenkol- legen. Ich bin bereit, freiwillig in den katholischen Reli- gionsunterricht zu gehen, während die türkischen Kin- der früher heimgehen können. Ich bin bereit, Gebete, deren Worte mir anfangs nicht klar sind, nachzuäffen. […] Ich bin bereit, das Doppelte meiner Einnahmen für eigenwillige Kleidung auszugeben, um mich anschlie- ßend von quälenden Geldsorgen stören zu lassen. Das Anrüchige einer kleinen Immigrantin ist nicht mal mit Chanel abzuwaschen. […] Die Leere darf nicht ei- nen wahrnehmbarenMoment lang aufklaffen. Ich kaufe ein, als mein Vater stirbt. Ich kaufe ein, als ich mich von meinem ersten Freund trenne. lichsten Bezirken, ging in Bruchbuden aus und ein und in Luxusappartements, verdarb mir den Magen zu glei- chen Teilen amWürschtlstand und imgehobenen Sushi- restaurant. Die Mehlspeistradition hat mir einige Jeans- modelle geraubt und in den 80ern das U4 den Schlaf. Meine erste große Liebe begann in der Innenstadt und zerbrach im 15. Hieb. […] Ich hatte böse Nachbarn, und ich hatte Engelsgestalten nebenan. Ich kenne den Ge- ruch dieser Stadt: von Pferdeurin über Punschlüfterl bis Rosenduft. Ich verließ sie zu Fuß, im Zug, im Auto, un- ter röhrendem Turbinengeräusch. Ich freute mich im- mer auf Abwechslung. Aber ich war immer erleichtert, zurückzukommen. Manchmal dauert eine Heimfin- dung an die 35 Jahre. Aber was langsam wächst, wird endlich gut. 2 4 6 8 2 4 6 8 10 12 14 16 18 2 4 6 8 10 12 14 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 16 18 20 22 24 26 28 Aus: Der Standard, 9. 12. 2016 Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verlags öbv

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