Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

zwISCHEnrAuM 4  Neue Texte – nicht nur auf Deutsch 184 Großmutter gibt mir ein Zeichen mit der Hand, ich solle ihr folgen. Wir gehen durch die schwarze Küche in die Speisekammer. Am Gewölbe klebt alter Rauch wie dunkles, speckiges Harz. Ein saurer Dunst hängt über den Futterkübeln, in denen Essensabfälle für die Schwei- ne gesammelt werden. […] In der Speisekammer schöpft Großmutter gehärtetes Schweineschmalz aus einem Topf, dann fährt sie mit einem Löffel in die Apfelmar- melade und nimmt eine weißgraue Schimmelschicht ab, die sie zu den Abfällen wirft. Malada steht auf den Eti- ketten, die sie mit einem Brei aus Mehl, Milch und Speichel auf die Gläser geklebt hat. […] Im Durchzug lösen sich Rußflocken von den Wänden in der schwar- zen Küche und legen sich auf die Brotlaibe, die hochge- stellt auf einem Holzregal lagern. […] Großmutter ar- beitet in der Küche. Die Speisen, die sie zubereitet, schmecken nach schwarzer Küche, nach der dunklen, schlecht beleuchteten Grotte, die wir täglich ein paar Radek Knapp: Aus dem Roman „Herrn Kukas Empfehlungen“ (1999) Uns Ostler faszinieren Dinge, die nicht in den Reise- führern stehen. Als unser Bus zwei Stunden später in Wien einfuhr, stach mir als erstes die Sauberkeit ins Auge. Dabei bin ich kein Sauberkeitsfanatiker, aber auf der Straße lag nichts, nicht einmal ein zufällig fallen gelassenes Papiertaschentuch. Als wäre gerade vor ei- nem Moment ein riesiger Staubsauger vorbeigefahren und hätte alles, was nicht niet- und nagelfest war, in sich aufgesaugt. Sedat Demirdegmez: Aus der Erzählung „Wahrscheinlichkeit “ (2005) Wir sitzen an einem Tisch in der Küche. Ein schwarzer Hund läuft durch die Wohnung, er gehört einer Mitbe- wohnerin. Sie hat sich gerade ihr Essen zubereitet und gibt auch ihrem Hund zu fressen. […] Die junge Frau hat auch kein Problem damit, in einem Raum, in dem ein Hund frisst, zu essen. Sie streichelt ihn sogar manchmal, während sie isst. Ich wasche meine Hände immer zwei Mal mit Seife, wenn ich einen Hund be- Mal durchqueren. Alles Essbare, scheint mir, nimmt den Geruch und die Farbe der Rauchküche an. Der Speck und das Heidenmehl, das Schmalz und die Mar- melade, sogar die Eier riechen nach Erde, Rauch und gesäuerter Luft. […] Ich […] drehe begeistert die Kurbel, wenn sie den Ha- fer röstet für den Kaffee. Ich höre ihr zu, wenn sie er- zählt, für wie viele Menschen sie schon gekocht hat, damals zu Hause, als es noch Knechte und Mägde gab und sehr viele Kinder. Sie sagt, sie habe auch Essen ge- stohlen für sich und die anderen, sie habe nach jeder Kartoffelschale gesucht, nach allem, was essbar schien, damals, als sie die Kessel gewaschen hat, das war noch ein Glück, sagt sie, dass sie dahin gekommen sei, in die Küche, im Lager, ich weiß. […] Das Abwaschwasser aus der Blechschüssel schüttet sie ins Freie. Ihre langen geröteten Finger sind nach dem Spülen violett. Sie se- hen aus wie Krallen. Als nächstes fielen mir die Bäume auf, die entlang der Straße wuchsen. Sie waren gerade wie Laternen, und um jeden Baum herum war im Asphalt fein säuberlich ein Quadrat ausgeschnitten, in dem Erde und Dünger lagen, damit sich der Baum fühlte, als sei er im Wald. Dass aber diese Bäume nie einen Wald gesehen hatten, merkte man allein an ihren Ästen. Sie standen im rechten Winkel vom Stamm, was so ungefähr jedem Naturgesetz widersprach. Dafür aber fügten sie sich ideal in die allgemeine Symmetrie der Häuser, Schil- der und Litfasssäulen. rührt habe. […] Viele stellen Fragen über die politi- sche Lage in Kurdistan und bringen Lösungsvorschlä- ge. Sie machen einen Doppelliter Wein auf und disku- tieren über Politik. Sie sind sehr interessiert. Ich bin erstaunt, dass sie Alkohol trinken, während sie über Politik sprechen, und mit roten Augen über Werte ur- teilen, für die ich gekämpft habe. Die Diskussion hat kein Ende. Ich möchte gehen. Als wir uns verabschie- den, steht wieder niemand auf. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 2 4 6 8 2 4 6 8 20 22 24 26 28 30 32 34 36 10 12 14 16 18 20 10 12 14 16 Die Literatur der Migrantinnen und Migranten So wie bei vielen Autorinnen/Autoren steht auch bei der Literatur der Migrantinnen/Migranten Folgendes im Vorder- grund: „Die Lust am Schreiben. Das Spiel mit der Sprache. Die künstlerische Selbstverwirklichung.“ So formuliert der aus der Türkei stammende Autor Ercüment Aytac sein literarisches Programm. Sie sind emigriert aus Angst vor Krieg oder Arbeitslosigkeit, sie sind eingewandert zum Studium oder der Liebe wegen. Freilich dominieren bestimmte Themen: die Verfolgung, der sie in der Heimat ausgesetzt waren, die oft schmerzlichen Erfahrungen eines Lebens außerhalb des vertrauten Umfelds und die Gefühle unmittelbar nach der Ankunft in Österreich. Wie das Thema „Ankunft“ gestaltet werden kann, zeigen Ihnen die folgenden Textausschnitte. VIERMAL ANKOMMEN UND EIN RÜCKBLICK Deuten Sie das Verhalten der Menschen im letzten zitierten Satz aus „Der Zögling Tjaž“. Erklären Sie (oder schlagen Sie nach), was eine „Rauchküche“ ist, beschreiben Sie, in welchen Details sich die Kargheit des Lebens in „Engel des Vergessens“ zeigt und wo sich die Erinnerung der Großmutter nicht von der Verschleppung in das KZ lösen kann. Nur zu Prüfzweck n – Eigent m des Verlags öbv

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