Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

 160 Semestercheck (7. Semester) THEMA 1: vErAnTwOrTunG FÜr DIE SPrACHE Hauptkompetenz und Teilkompetenz Sprachreflexion: Den Zusammenhang von Sprache und gesellschaftlichen Entwicklungen erkennen Weitere geforderte Kompetenzen Textkompetenz, Mündliche Kompetenz, Schriftliche Kompetenz Methodisch-didaktische Hinweise Teil a : Partner-/Gruppenarbeit; Teil b: Einzelarbeit Zeitbedarf Teil a: 20 Minuten ohne Präsentation der Ergebnisse; plus eventuelle Diskussion; Teil b: 50 Minuten Ständig werden wir mit Sprache manipuliert – von Verkäufern und Politikern, von Kollegen und Gelieb- ten. Bereits einzelne Buchstaben können darüber entscheiden, welche Gefühle ein Begriff in uns aus- löst. Der Feind hatte kein Antlitz. Er war auf gespensti- sche Weise unsichtbar, tötete aus dem Hinterhalt. Der Mediziner Robert Koch (1843−1910) erkannte es als Erster: Die Menschheit befand sich im Krieg. Der Feind war das Heer von Bakterien, die Erreger von Milzbrand, Tuberkulose und Cholera. Sehen konnte man sie nicht. Doch Koch sorgte dafür, dass die Bedrohung bald jedem vor Augen stand. Er sprach von „Eindringlingen“. Er warnte vor „Inva- sionen“ und forderte eine „Offensive“ mit schlag- kräftigen „Waffen“. Sprachlich gesehen, befand sich der Begründer der Bakteriologie nicht im Labor, er war auf dem Schlachtfeld. Zu Zeiten Robert Kochs war diese Metaphorik ungewöhnlich – und, wie sich zeigte, äußerst wirkungsvoll. Koch nutzte die Kriegsmetaphorik, um für sein junges Forschungs- feld um Unterstützung zu werben. Zweifel und kri- tische Stimmen konnten dank dieses Sprachge- brauchs übergangen werden.[…] Im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts zeig- ten solche Worte Wirkung, ja man kann sagen: Der Geist des Militarismus förderte Kochs Forschung. […] Legendär sind die Experimente der US-Psycholo- gin Elizabeth Loftus, die zeigen, wie schon einzelne Wörter Erinnerungen verändern können, etwa bei Augenzeugen. Allein das Wort „zusammenkra- chen“ (smash) anstelle von „zusammenstoßen“ (hit) in einer Frage führt dazu, dass manche Zeu- gen plötzlich meinen, bei einem Autounfall zer- splittertes Glas gesehen zu haben. Worte können Scheiben zum Bersten bringen. […] Immer, wenn es abstrakt wird, mikroskopisch klein oder physisch nicht greifbar – wie im Fall der Bak- terien in Robert Kochs Labor –, erweisen uns Meta- phern einen großen Dienst. Sie veranschaulichen Abstraktes mit Konkretem: Bakterien als „feindli- che Eindringlinge“, den genetischen Code als „Buch des Lebens“, die Finanzhilfen für Krisenstaaten als „Rettungsschirm“. Doch solche Wörter sind mehr als nur bildhafte Poesie, sie sind auch Fallen. „Metaphern haben ei- nen großen Anteil daran, Wirklichkeiten zu kon- struieren“, sagt die Linguistin Constanze Spieß von der Universität Münster. „Und sie lassen dabei im- mer nur eine Seite in den Vordergrund treten.“ Spieß hat vor einigen Jahren die Debatte um die embryonale Stammzellforschung analysiert. Für manche der Akteure waren Stammzellen „Zellhau- fen“, „Rohstoffe“ oder „Ersatzteillager“, andere sprachen dagegen vom „werdenden Leben“. Ein großer Unterschied, der Folgen für Denken und Handeln hat, sagt Spieß. Denn Sprachbilder aktivieren assoziative Netzwerke, die Linguistik spricht von „Frames“. Beispiel Rohstoff-Metapher: „Viele Aspekte, die wir mit Rohstoffen in Verbin- dung bringen, werden automatisch auch auf den Embryo projiziert“, sagt Spieß. Und leicht liege dann der Schluss nahe: „Wenn Stammzellen Roh- stoffe sind, dann kann man sie auch so behandeln – dann kann man sie gewinnen, fördern und ver- arbeiten.“ Hier liegt die Tücke. Sprachbilder drängen uns eine Weltsicht auf. Sie machen aus Dieben am Gemein- wesen bemitleidenswerte „Steuerflüchtlinge“ und aus echten Flüchtlingen drohende „Tsunamis“. Die Metapher lenkt das Denken in eine konkrete Rich- tung. Sie liefert die Lösungsansätze für ein Problem gleich mit: Was liegt näher, als Dämme zu bauen, wenn eine „Flutwelle“ das Land bedroht? Und wel- che Wahl haben Politiker, wenn der Finanzmarkt wie „ein Patient“ mit „akuten Kreislaufproblemen“ daniederliegt? Von einemArzt würde niemand ver- langen, den Kranken sterben zu lassen. Wie sehr Metaphern politische Ansichten manipu- lieren können, haben die amerikanischen Psycho- logen Lera Boroditsky und Paul Thibodeau mit ei- nem erstaunlichen Experiment demonstriert. Sie legten Versuchspersonen folgenden Text vor: „Das Verbrechen ist eine Bestie, die die Stadt Addison heimsucht. Vor fünf Jahren befand sich Addison in 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 Claudia Wüstenhagen: Große Worte, subtiler Einfluss S 1 Textkompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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