Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

157 Literarische Bildung Marlene Streeruwitz: „Jessica, 30.“ Jessica Sommer denkt über ihre Rolle in der Gesellschaft nach. Sie ist Journalistin bei einem Life-Style-Magazin, dessen Redaktionsteam, geleitet von einstigen WG-Freundinnen für Jessica nichts als eine „Tussenriege“ ist. Jessica ist intelligent genug, um zu erkennen, dass Beruf, Männerwelt und Gesellschaft einer Frau drei Aufgaben zuschanzen: Attraktivsein, Funktionieren, Konsumieren. Jessicas Dilemma: trotz ihres Durchblicks möchte sie so genau so sein, wie man sie sehen will: schön, erfolgreich, anerkannt, reich. Jessica läuft gerne, vor allem im Wiener Prater. Die folgenden Stellen aus Jessicas Monolog während des Laufens, bei der Rückkehr in die Wohnung und bei ihrer Vorbereitung auf die Redaktionssitzung informieren Sie über Jessica und ihre Probleme. Eines der zentralen Themen der Frauenliteratur ist die Darstellung der Erziehungsproblematik: Wie werden Mädchen auf ihren Rolle in der Gesellschaft vorbereitet, welche Rollen sollen sie spielen? Die wichtigste Erziehungsinstitution ist zunächst die Familie. Die psychische Zerstörung der Tochter durch ihre Mutter, als „Inquisitor und Erschießungs- kommando in einer Person“ vorgestellt, ist Thema des Romans „Die Klavierspielerin“ von Elfriede Jelinek (*1946). Anna Mitgutsch (*1948) schildert in ihrem Roman „Die Züchtigung“ (1985) über drei Generationen hinweg die Ausweglosigkeit von Frauen, welche den Druck der Gesellschaft auf ihre Töchter weitergeben, und sie zum Hoffnungs-objekt für ihre enttäuschten Wünsche degradieren. „Das Kind musste ihr [der Mutter] heraushelfen aus dem Elend ihrer Ehe und ihres ganzen Lebens, das Kind […] würde ihr nicht nur die Liebe geben, nach der sie schon seit fünfundzwanzig Jahren hungerte […]. Durch dieses Kind würde sie es doch noch schaffen“ , heißt es im Roman „Die Züchtigung“. Wenn es um die Väter geht, so sind diese kaum mehr die Tyrannen, als die sie zum Beispiel in den Werken Franz Kafkas erscheinen. Viel eher sind die Väter real oder emotional aus den Familien verschwunden, die Töchter auf der Suche nach ihnen. Symptomatisch dafür ist Brigitte Schwaigers (1949 –2010) ‚Vaterbuch‘ mit dem Titel „Lange Abwesenheit“ (1980). Die Beziehung zum Vater auch Thema des Romans „Nackte Väter“ (1999) von Margit Schreiner (*1953). Schreiner verfolgt den Lebenslauf des toten Vaters von dessen Tod zurück. Zentrum der Darstellung ist seine Hilflosigkeit als Alzheimer-Patient, Symbol seine Nacktheit, die er nicht mehr wahrnimmt. Die schon in der Erziehung vielfach vorbereitete doppelte Benachteiligung der Frau in der Arbeits- und Männerwelt ist der Gegenstand von Romanen wie Elfriede Jelineks „Die Liebhaberinnen“ (1975). Die Frau muss sich auf einen doppelten Markt werfen, den Arbeitsmarkt und den Männermarkt. Die Frau wird zur Ware, die sich bestmöglich verkaufen muss, denn „gebrauchte frauen werden selten, und wenn, dann nur vom erstverbraucher genommen“ . Dennoch ist die einzige Perspektive, aus einer entfremdeten Arbeit wegzukommen, die Ehe: „viele näherinnen scheiden aus durch heirat, kindesgeburt oder tod. brigitte hofft, dass sie einmal durch heirat und kindesgeburt ausscheiden wird. alles andere wäre ihr tod. auch wenn sie am leben bleibt.“ Meist aber ist auch die Ehe eine Enttäuschung: „oft heiraten diese frauen oder gehen sonst wie zugrunde“ , merkt Jelinek provozierend an. In „Jessica, 30.“ von Marlene Streeruwitz (*1950) geht es um eine junge Akademikerin, die als „freie Mitarbeiterin“ bei einer Frauenzeitschrift werkt und danach trachtet, auf diesem Markt zu bestehen. Unter dem Einfluss des Wiener Philosophen Ludwig Wittgenstein wird Sprachkritik bis heute ein wichtiges literarisches Anliegen (Peter Handke, Ingeborg Bachmann). Auch die „Wiener Gruppe“ – H. C. Artmann (1921−2000), Gerhard Rühm (*1930) – sowie Ernst Jandl (1925−2000) und Friederike Mayröcker (*1924) setzen in ihren experimentellen Texten auf Kritik an der Sprache. Große Diskussionen lösen die kritischen Werke von Thomas Bernhard aus. Oft wird allerdings übersehen, dass seine Kritik nicht wortwörtlich interpretiert werden kann, da Bernhard sich offen zum Stilprinzip der Übertreibung bekennt. Die ‚Frauenliteratur‘ macht aufmerksam auf Missstände im Allgemeinen und auf die in vieler Hinsicht kritikwürdige Situation der Frau im Besonderen; Erziehung, Geschlechterrolle, Beziehungen werden zu wichtigen Themen z. B. bei Ingeborg Bachmann, Marlen Haushofer (1920−70), Barbara Frischmuth (*1941), Elfriede Jelinek (*1946), Anna Mitgutsch (*1948), Marlene Streeruwitz (*1950). Die Problematik sozialer Benachteiligung auf dem Land und in der Stadt wird realistisch dargestellt; so z. B. bei Franz Innerhofer (1944−2002; Roman „Schöne Tage“). Dokumentarische Werke , wie die Romane von Erich Hackl (*1954; „Abschied von Sidonie“, „Familie Salzmannn“) gehen historischen und aktuellen Diskriminierungen nach. Autoren wie Peter Handke („Mein Jahr in der Niemandsbucht“, 1994) lehnen den Begriff einer engagierten Literatur zunehmend ab; Literatur könne höchstens zur Klarheit führen über den Schreibenden selbst, aber keine gesellschaftlichen Aufgaben übernehmen. Offen bleibt die Entwicklung der Literatur im Zusammenhang mit den Veränderungen im Buchwesen: digitale Literatur, MP3-Bücher, Projekte, die Literatur im Internet (frei) zugänglich zu machen. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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