Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

155 Sprachreflexion Textkompetenz Literarische Bildung Mediale Bildung Friederike Mayröcker: fleurs (2016) Friederike Mayröcker spricht einmal von ihrer Literatur als von „halluzinierten Stücken“ . Sie schreibe direkt von ihren Träumen ab, empfange „Verbalträume“ . Ihre Aufgabe als Dichterin bestehe darin, diese Träume einzufangen und zu warten, „bis es einschnappt“ . Lesen Sie hier Ausschnitte aus ihrem neuesten Werk: lung sorgte, indem es immer wieder zumNachwärmen auf die Herdplatte gestellt wurde, und schließlich das GUTE STÜCK, die fuß- und handbetriebene ‚Sin- ger’-Nähmaschine; – woran wieder nur die Aufzäh- lung das heimelige ist. Aber eine andre Methode der Aufzählung wäre natür- lich genauso idyllisch: die Rückenschmerzen; die an der Kochwäsche verbrühten, dann an der Wäscheleine rotgefrorenen Hände; […] das ewige Gejammer über die kleinen Wehwehchen, geduldet, weil man schließ- lich nur eine Frau war; Frauen unter sich: kein ‚Wie geht‘s?’, sondern ‚Geht‘s schon besser?’ 14 16 18 20 22 24 Die sprachkritische Intention eines Textes erläutern Beschreiben Sie, mit welchen sprachlichen ‚Tricks’ das Unangenehme der täglichen Arbeit verharmlost werden soll. Ersetzen Sie die Wörter in Großbuchstaben durch Ihnen ehrlicher erscheinende; erläutern Sie, welchen Stellenwert der Arbeitsalltag dann bekommt. Welcher Fachbegriff bezeichnet sprachliche Verharmlosungen? 12.9 dieser Duft der Madonnenlilien in den Bahnhöfen des Landes (Bahnhofshalle v.Bregenz) ich erinnere mich : 1 Strausz weiszer Lilien welche ihren innersten Duft aus- strahlend wie mit Flügelchen flatternd Duft-Flügelchen in einer Vase auf einer der Bänke der Bahnhofshalle v.Bregenz, ihren Duft im Wuchern einer Blumenwiese welche ich ans Herz usw. […] welche wie weisze Lilien, drückend und weinend ans Herz Mondrian’s Tableau No. IV Rautenform mit rot blau gelb und schwarz näm- lich pustend 1924/25 usw., Goethe hat auch abgeküszt Madonnenlilie = Paradiesvogel fliegt auch im Schlafe = nach naturkundlichen Erkenntnissen nicht zu akzeptie- ren, weiszt du […] ich möchte mit Jean Paul spazieren- gehen […] 10.4.14 ich halte mir die Hände vors Gesicht wie ich weine. In meinem Kämmerchen, SW-Seite, schiefer Maschinen- schreibtisch, „hermes baby“ zu Klaviermusik von Franz Liszt heilige Morgenstunde. Drauszen Frühling Ende März ich sehe dasz der Flieder sprieszt, manchmal schreibe ich von meinen Träumen ab, ich empfange Verbalträume. Ich sitze gebückt fast kniend (wie Glenn Gould beim rasenden Spiel), man musz warten kön- nen bis es einschnappt, ich brauche eine hohe Zim- mertemperatur und elektrisches Licht auch wenn die Sonne hereinscheint. […] neue Version am 13.4.14 heute morgen aus dem Fenster blickend schien es mir ich sei in Innsbruck : umschlossen von klirrenden Berg- spitzen : welche Erfahrung mich erinnerte an das klir- rende Fenster in einem Klassenzimmer nämlich dasz die Glassplitter auf mich herunterprasselten und mein Gesicht zerstörten also dasz ich erschrak und dahin- sprang weil ich blutete ........ da es mir so erging dasz die Sonne zersprang eben die Rehkitze der Sonne etc. […] 12.5.14 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 Sprachliche Eigenheiten eines Textes bestimmen Benennen Sie die Unterschiede zwischen der Standardsprache und Mayröckers Text und versuchen Sie aus den Textausschnitten möglichst viele visuelle, akustische … Beobachtungen, Erinnerungen, Traumgesichte der Autorin herauszuarbeiten. Recherchieren Sie, was eine „hermes baby“ ist, informieren Sie sich im Internet über Glenn Gould und Piet Mondrian und sein Tableau No 4 und präsentieren Sie Ihre Ergebnisse in der Klasse. 12.10 ÖSTERREICHISCHE „EIGENHEITEN“, KRITISCH BETRACHTET Dass österreichische Autorinnen/Autoren als Kritiker ihres Landes auftreten, ist nicht neu. Grillparzer hatte gegen das Aufführungsverbot seines Dramas „König Ottokars Glück und Ende“ mit den „Kritischen Briefen“ protestiert und die Behörden mit Witz lächerlich gemacht. Nestroys Drama „Freiheit in Krähwinkel“ hatte sich mutig gegen den Habsburger-Absolutismus gewandt. „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus hatten die Kriegshetze der Monarchie angegriffen. Ernst Jandl hatte im Gedicht „Heldenplatz“ die Bereitschaft vieler Österreicher demaskiert, sich von der NS-Demagogie blenden zu lassen. Doch diese Kritik hatte bisher meist nur die Theaterbesucher und tatsächlichen Leserinnen und Leser erreicht. Die Kritik, die Autoren wie Thomas Bernhard (1931−89) in ihren Werken äußern, ereiferte jedoch nahezu die gesamte Öffentlichkeit. Leser und Nicht-Leser, Medien und Politiker nahmen – sehr oft negativ – Stellung. Eine sachliche Auseinandersetzung mit der literarischen Arbeit fehlte meist. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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