Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

153 Sprachreflexion Textkompetenz Literarische Bildung Marie Luise Kaschnitz: Hiroshima (1958) Dass nach 1945 kein Gedicht mehr ein „guter“ Text sein könne, wenn nicht die vorausgegangenen Katastrophen und die künftigen Gefährdungen zur Sprache kommen, das ist die Meinung von Marie Luise Kaschnitz (1901−74). Überhaupt sei es unmöglich, diesen Fragen auszuweichen und vor allem Begriffe wie Tod zu vermeiden. Zu ein- geschränkt wären die Themen, unwahr wäre eine solche Literatur. Das Gedicht „Hiroshima“ gehört zu den berühmtesten ‚Warngedichten’ der Zeit. Ingeborg Bachmann: „Freies Geleit“ (1956) 1953 und 1956 erscheinen die Lyrikbände „Die gestundete Zeit“ und „Anrufung des großen Bären“ der Klagenfurterin Ingeborg Bachmann (1926−73) . Die Kritik rühmte besonders ihre sprachliche Schönheit. Dass die Gedichte so wie „Freies Geleit“, scharfe Kritik ausdrücken, wurde oft übersehen. Hiroshima Der den Tod auf Hiroshima warf Ging ins Kloster, läutete dort die Glocken. Der den Tod auf Hiroshima warf Sprang vom Stuhl in die Schlinge, erwürgte sich. Der den Tod auf Hiroshima warf Fiel in Wahnsinn, wehrte Gespenster ab. Hunderttausend, die ihn angehen nächtlich Auferstanden aus Staub für ihn. Nichts von alledem ist wahr. Erst vor kurzem sah ich ihn Im Garten seines Hauses vor der Stadt. Die Hecken waren noch jung und die Rosenbüsche zierlich. Das wächst nicht so schnell, dass sich einer verbergen könnte Im Wald des Vergessens. Gut zu sehen war Das nackte Vorstadthaus, die junge Frau Die neben ihm stand im Blumenkleid Das kleine Mädchen an ihrer Hand Der Knabe der auf seinem Rücken saß Und über seinem Kopf die Peitsche schwang. Sehr gut erkennbar war er selbst Vierbeinig auf dem Grasplatz, das Gesicht Verzerrt vor Lachen, weil der Photograph Hinter der Hecke stand, das Auge der Welt. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 Die historischen Bezüge von Gedichten erkennen Ad Nelly Sachs: Bestimmen Sie das Thema des Gedichtes. Beschreiben Sie, welche Gegensätze die beiden Strophen wiedergeben, erläutern Sie, welche Gegenstände, welche Handlungen der Mütter und welche Metaphern die Kindheit von „noch gestern“ charakterisieren. Benennen Sie die Antithese zu den „Müttern“ und die Metaphern für die Angst der Kinder. Ad Marie Luise Kaschnitz: Untersuchen Sie folgende Aspekte … von Strophe 1: Durch welches Stilmittel betont die Autorin die Tragweite der Tat? Welche Vermutungen über die vom Bombenabwerfer möglicherweise gezogenen Konsequenzen werden angestellt? Welchen Zeilen würden Sie die Begriffe Buße, nicht mehr ausgehaltene Schuld, quälendes Gewissen zuordnen? … von Strophe 2: Welcher Vers leitet die Antithese zu den angestellten Vermutungen ein? Welches Leben führt der Bombenabwerfer tatsächlich? Welche Verse deuten an, dass trotz aller Bemühungen das Verstecken vor der Verantwortung nicht gelungen ist? Die auf Hiroshima abgeworfene Bombe wurde von der Bomberbesatzung ‚Little Boy’ genannt, die Bombe auf Nagasaki hieß ‚Fat Man’. Erklären sie den Zweck beider Bezeichnungen. 12.6 Freies Geleit (Aria II) Mit schlaftrunkenen Vögeln und winddurchschossenen Bäumen steht der Tag auf, und das Meer leert einen schäumenden Becher auf ihn. Die Flüsse wallen ans große Wasser, und das Land legt Liebesversprechen der reinen Luft in den Mund mit frischen Blumen. Die Erde will keinen Rauchpilz tragen, kein Geschöpf ausspeien vorm Himmel, mit Regen und Zornesblitzen abschaffen die unerhörten Stimmen des Verderbens. Mit uns will sie die bunten Brüder und grauen Schwestern erwachen sehn, den König Fisch, die Hoheit Nachtigall und den Feuerfürsten Salamander. Für uns pflanzt sie Korallen ins Meer. Wäldern befiehlt sie, Ruhe zu halten, dem Marmor, die schöne Ader zu schwellen, noch einmal dem Tau, über die Asche zu gehn. Die Erde will ein freies Geleit ins All jeden Tag aus der Nacht haben, dass noch tausend und ein Morgen wird von der alten Schönheit jungen Gnaden. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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