Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

SPrACHrAuM 12  Literatur von Franz Kafka bis zur Gegenwart 152 Textkompetenz Literarische Bildung Texte zueinander in Beziehung setzen Benennen Sie das Thema der beiden folgenden Texte und stellen Sie die formalen Unterschiede und inhaltlichen Parallelen fest. 12.5 Hilde Spiel: Aus: Das Haus der Sprache (1984) Das Exil ist eine Krankheit. Sie erfasst den Geist, das Gemüt, häufig auch den Körper, und sie ist unheilbar oder selten heilbar, nicht einmal durch die Rückkehr ins eigene Land. Zu sehr ist der Emigrant, der Jahre oder Jahrzehnte in der weiten Welt verbracht hat, seinem Ursprung entfremdet, zu tief ist die Kluft, die Ausgewanderte und Daheimgebliebene trennt, um nicht immer wieder, manchmal erst nach geraumer und trügerisch harmonischer Zeit, von neuem aufzureißen. […] Man ist nirgendwo ganz zu Hause. Die Heimat ist Fremde geworden, und die Fremde nicht Heimat. 2 4 6 8 10 12 Mascha Kaleko: Heimweh, wonach? (posthum veröffentlicht 2007) Wenn ich „Heimweh“ sage, sag ich „Traum“. Denn die alte Heimat gibt es kaum. Wenn ich Heimweh sage, mein ich viel: Was uns lange drückte im Exil. Fremde sind wir nun im Heimatort. Nur das „Weh“, es blieb. Das „Heim“ ist fort. 2 4 6 Die Literatur von 1945 bis zur Gegenwart Vier Themenkreise sollen in der Folge die deutschsprachige und insbesondere die österreichische Literatur nachzeichnen: das Bewusstwerden und die Aufarbeitung der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und die neue Bedrohung durch Atom- und Wasserstoffbomben; die Skepsis an der Sprache, die Kritik an ihrer Manipulationsfähigkeit und die Wege, der Manipulation zu entgehen; die literarische Kritik an manchen „Eigenheiten“ Österreichs und die Anliegen und Themen der „Frauenliteratur“. DIE KATASTROPHE DES KRIEGES UND NEUE BEDROHUNGEN Der vom NS-Regime ausgelöste Krieg von 1939 bis 1945 hatte Europa und viele Teile der Welt in eine Katastrophe gestürzt. 55 Millionen Tote sind zu beklagen, 10 Millionen sind vertrieben, Städte zerbombt, 40% der Wohnungen vernichtet. In seiner 1956 erschienenen Analyse der modernen Welt, die den Titel „Die Antiquiertheit des Menschen“ trägt, untersucht der österreichische Philosoph Günter Anders die neue Situation des Menschen nach dem Krieg. Mit der Möglichkeit des technisierten Massenmords in den Konzentrationslagern und Herstellung von Atom- und Wasserstoffbomben ergibt sich eine bisher unbekannte Situation. Die „Apokalypse“ , wie Anders den Massentod in den Lagern und die Auswirkungen der Atombombe nennt, übersteigt alle Vorstellungen und möglichen Gefühle: „Zehn Ermordete zu bereuen oder zu beweinen, sind wir unfähig. […] Vorstellen können wir [uns] die zehn Toten vielleicht. Zur Not. Aber töten – können wir Zehntausende.“ Auch die Literatur reagiert auf diese Fakten und neuen Situationen. Nelly Sachs: O der weinenden Kinder Nacht (1946) Auf Intervention der schwedischen Literaturnobelpreisträgerin Selma Lagerlöf („Nils Holgersson“) kann Nelly Sachs (1891−1970), später selbst Nobelpreisträgerin, kurz vor der drohenden Verschleppung fliehen. Ihre Gedichtbände, wie „In den Wohnungen des Todes“, aus dem das zitierte Gedicht stammt, sind eine Klage über die am jüdischen Volk begangenen Gräuel. Doch diese Gedichte haben keine Sprache für die Mörder. Die kommen gar nicht vor. Die Gedichte gelten den Opfern, nur sie haben das Recht in der Sprache der Dichtung zu erscheinen. O der weinenden Kinder Nacht! Der zum Tode gezeichneten Kinder Nacht! Der Schlaf hat keinen Eingang mehr. Schreckliche Wärterinnen Sind an die Stelle der Mütter getreten, Haben den falschen Tod in ihre Handmuskeln gespannt, Säen ihn in die Wände und ins Gebälk. Überall brütet es in den Nestern des Grauens. Angst säugt die Kleinen statt der Muttermilch. Zog die Mutter noch gestern Wie ein weißer Mond den Schlaf heran, Kam die Puppe mit dem fortgeküssten Wangenrot In den einen Arm, Kam das ausgestopfte Tier, lebendig In der Liebe schon geworden, In den andern Arm, Weht nun der Wind des Sterbens, Bläst die Hemden über die Haare fort, Die niemand mehr kämmen wird. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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