Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

151 Textkompetenz Mündliche Kompetenz Literarische Bildung Die Arten der Masse Für Canetti gibt es mehrere Arten von Massen. Sie unterscheiden sich durch das, was sie im Sinn haben. Zwei Hauptformen der Masse sind für Canetti die „Flucht-“ und die „Hetzmasse“. Über die „Hetzmasse“ informiert Sie der folgende Abschnitt aus „Masse und Macht“, begonnen 1925, publiziert 1960, dem Werk, für das Canetti 1981 den Literaturnobelpreis bekam. Die Hetzmasse bildet sich im Hinblick auf ein rasch erreichbares Ziel. Es ist ihr bekannt und genau bezeichnet, es ist auch nah. Sie ist aufs Töten aus, und sie weiß, wen sie töten will. Mit der Entschlossenheit ohnegleichen geht sie auf dieses Ziel los […]. Es genügt, dieses Ziel bekannt zu geben, es genügt zu verbreiten, wer umkommen soll, damit eine Masse sich bildet. Die Konzentration aufs Töten ist eine besonderer Art und an Intensität durch keine andere zu übertreffen. Jeder will daran teilhaben, jeder schlägt zu. Um seinen Schlag führen zu können, drängt sich jeder in die nächste Nähe des Opfers. Wenn er nicht treffen kann, will er sehen, wie es von den anderen getroffen wird. […] Ein wichtiger Grund für das rapide Anwachsen der Hetzmasse ist die Gefahrlosigkeit des Unternehmens. Es ist gefahrlos, denn die Überlegenheit auf Seiten der Masse ist enorm. Das Opfer kann ihnen nichts anhaben. Es kann nicht zuschlagen, in seiner Wehrlosigkeit ist es nur noch Opfer. Es ist für seinen Untergang freigegeben worden. Es ist zu seinem Schicksal bestimmt, für seinen Tod hat niemand eine Sanktion zu befürchten. […] Es ist ein so leichtes Unternehmen und es spielt sich so rasch ab, dass man sich beeilen muss, um zurechtzukommen. […] Textaussagen erfassen und zu gesellschaft- lichen und politischen Realitäten in Beziehung setzen Beschreiben Sie das Ziel der „Hetzmasse“, analysieren Sie Canettis Begründung für das schnelle Anwachsen der „Hetzmasse“ und das Verhalten des Einzelnen in dieser Masse. Erklären Sie, eventuell in Zusammenarbeit mit dem Fach „Geschichte“, welche politischen und religiösen Ideologien auf „Hetzmassen“ setz(t)en. 12.4 In den parabelhaften Romanen und Erzählungen Franz Kafkas schlägt die Realität ins Irreale um („Der Prozess“, „Die Verwandlung“), die Personen haben keine Chance, ein Ziel zu erreichen oder Klarheit über ihre Situation zu bekommen. Schreiben zwischen 1925 und 1945 ƒƒ Totalitäre Ideologien wie der Nationalsozialismus rücken die Literatur ins Spannungsfeld zwischen der Mitarbeit an diesen Ideologien oder deren Ablehnung und Bekämpfung. ƒƒ Das expressionistische Pathos weicht einer ‚Neuen Sachlichkeit’, welche die Menschen mit ihren Fragen unmittelbar ansprechen soll. ƒƒ Bertolt Brechts episches Theater will im Gegensatz zum aristotelischen Theater, das über Emotionen Furcht und Mitleid erregen soll, das Publikum zu rationalem Denken und Handeln führen; Mittel dazu sind die Verfremdungseffekte. ƒƒ Das Volkstheater Ödön von Horváths deckt die Brutalität der Gesellschaft gegenüber den Schwachen, besonders den Frauen auf; verräterisch für die Scheinheiligkeit der Personen ist die von ihnen verwendete Sprache. ƒƒ Elias Canetti analysiert in seinem Roman „Die Blendung“ und in „Masse und Macht“ die emotional und irrational agierenden Massenbewegungen. Weitere bedeutende Epiker sind die Österreicher Joseph Roth (1894−1939) und Robert Musil (1880−1942). Roth thematisiert in Romanen wie „Radetzkymarsch“ und „Kapuzinergruft“ mit Wehmut den Untergang der Habsburgermonarchie. Musil formt in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ den traditionellen, auf Handlung und Entwicklung zielenden Roman um zu einer umfassenden Zeit- und Gesellschaftsanalyse. ƒƒ Die NS-Diktatur zwingt viele Autorinnen und Autoren in die reale oder in die ‚innere’ Emigration; viele von ihnen scheitern existenziell oder, abgeschnitten von der deutschen Sprache, literarisch; ihre Wieder- entdeckung vollzieht sich außer bei prominenten Namen wie Stefan Zweig nur langsam. BÜCHERVERBRENNUNG UND EXIL Kurz nach der „Machtübernahme“ der National- sozialisten in Deutschland brannten im April und Mai 1933 die Bücher. Den Bücherverbrennungen fielen Werke der größten Denker und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts zum Opfer. Sie war jedoch nur die „spektakulärste“ Aktion eines allgemeinen Kampfes gegen die Literatur. In den Jahren nach der NS-Machtübernahme flohen mehr als 2000 Autorinnen und Autoren ins Exil. Österreichische Dichterinnen und Dichter emigrierten ab 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs. Zunächst waren europäische Länder das Fluchtziel. Mit dem Ausbruch des Krieges 1939 wurde Europa zu unsicher, neue Zielländer wurden die Staaten Nord- und Südamerikas. Manche Autoren ertrugen die Fremdheit der Emigration und das Abge- schnittensein von ihrer Sprache und Kultur nicht und begingen im Exil Selbstmord, wie der Wiener Stefan Zweig (1881−1942), Autor von Werken wie der „Schachnovelle“, dem Roman „Ungeduld des Herzens“ oder der „Welt von gestern“, Erinnerungen im brasilianischen Exil an das untergehende Europa. Manche kehrten nach dem Krieg nach Europa zurück, wie die Wienerin Hilde Spiel (1911-90) oder die Altösterreicherin Mascha Kaléko (1907−75). Nur zu Prüfzwecken – igentum des Verlags öbv

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