Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

149 Textkompetenz Mündliche Kompetenz Literarische Bildung Eine kaiserliche Botschaft (1917) Der Kaiser – so heißt es – hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserli- chen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Den Boten hat er beim Bett nieder- knien lassen und ihm die Botschaft ins Ohr zugeflüstert; so sehr war ihm an ihr gelegen, dass er sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ. Durch Kopfnicken hat er die Richtigkeit des Gesagten bestätigt. Und vor der ganzen Zuschauerschaft seines Todes – alle hindernden Wände werden niedergebrochen und auf den weit und hoch sich schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Gro- ßen des Reichs – vor allen diesen hat er den Boten abge- fertigt. Der Bote hat sich gleich auf den Weg gemacht; ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann; einmal diesen, einmal den andern Arm vorstreckend schafft er sich Bahn durch die Menge; findet er Widerstand, zeigt er auf die Brust, wo das Zeichen der Sonne ist; er kommt auch leicht vorwärts, wie kein anderer. Aber die Menge ist so groß; ihreWohnstätten nehmen kein Ende. Öffne- te sich freies Feld, wie würde er fliegen und bald wohl hörtest Du das herrliche Schlagen seiner Fäuste an Dei- ner Tür. Aber statt dessen, wie nutzlos müht er sich ab; immer noch zwängt er sich durch die Gemächer des innersten Palastes; niemals wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müsste er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu durchmes- sen; und nach den Höfen der zweite umschließende Pa- last; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Pa- last; und so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor – aber niemals, niemals kann es geschehen – liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bo- densatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. – Du aber sitzt an Deinem Fens- ter und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 Die Aussage eines Textes und dessen sprachliche Besonderheiten erfassen Bestimmen Sie den Auftraggeber der Botschaft, die Stellung und das „Schicksal“ des Auftraggebers, das ihm zugeordnete Symbol und die Stellung des Adressaten. Erläutern Sie, mit welchen sprachlichen Mitteln der Adressat in den ersten Zeilen beschrieben wird. Beschreiben Sie, wer das Bindeglied zwischen Auftraggeber und Adressaten ist, dessen „Leistungsstärke“, Bemühen und Weg. Untersuchen Sie, welche Satzzeichen in der Wegbeschreibung auffällig sind und was sie bewirken. Erläutern Sie, welche Erwartungen zunächst in den Leserinnen/Lesern erweckt und wo diese Erwartungen enttäuscht werden. 12.1 Schreiben zwischen 1920 und 1945 Waren die ersten Jahre nach dem Ersten Weltkrieg (1914-1918) noch getragen von der Zuversicht der Literatur vor allem des Expressionismus, einen „neuen Menschen“ schaffen zu können, so waren ab Mitte der 20er-Jahre diese Hoffnungen verbraucht. Wirtschaftliche Not, Arbeitslosigkeit, die Weltwirtschaftskrise von 1929 und das Aufkommen totalitärer Ideologien wie Kommunismus und Nationalsozialismus kennzeichnen die Zeit. Diesen Themen kann sich auch die Literatur nicht entziehen. Je nach Weltanschauung der Autoren und Autorinnen fällt die Stellungnahme der Literatur jedoch völlig unterschiedlich aus. Sie kämpft gegen die totalitären Ideologien oder verteidigt sie. Sie ruft dazu auf, das rationale Denken und die Humanität nicht aufzugeben, oder propagiert im Gegensatz dazu pseudowissenschaftliche Begriffe wie „Rasse“, „Blut und Boden“. WEG VOM PATHOS IN DER LITERATUR: BERTOLT BRECHT Die literarischen Strömungen, die sich in Opposition zu dem in Deutschland aufkommenden und ab 1933 herrschenden Nationalsozialismus befinden, lehnen Pathos und Gefühlsbetontheit, die den Expressionismus kennzeichnen, ab. Distanz und Nüchternheit prägen die Lyrik und das die Zuschauer zu aktivem politischen Handeln statt zu Emotionen auffordernde „epische Theater“ von Bertolt Brecht (1989−1956). In einer Zeit, in der mit „Buchenwald“ und „Birkenau“ keine schönen Waldlandschaften gemeint sind, sondern die Konzentrationslager des NS-Regimes, muss Dichtung, auch die Lyrik, für Brecht Bewusstsein schärfen, politische Kritik provozieren. Natürlich bedauert der Dichter den Verlust der altbeliebten lyrischen Themen. Doch die Zeit erlaubt keine Flucht in die Idylle, wie das Gedicht „An die Nachgeborenen“ (1938) illustriert: Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende Hat die furchtbare Nachricht Nur noch nicht empfangen. Was sind das für Zeiten, wo Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! […] Ich wäre gerne auch weise In den alten Büchern steht, was weise ist: Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit Ohne Furcht verbringen Auch ohne Gewalt auskommen. […] Alles das kann ich nicht: Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! 2 4 6 8 10 12 14 16 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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