Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

SPrACHrAuM 12  Literatur von Franz Kafka bis zur Gegenwart 148 Literatur von Franz Kafka bis zur Gegenwart Dieser Sprachraum gibt Ihnen, wiederum mit einem Österreichschwerpunkt, einen Überblick zur deutschsprachigen Literatur vom Ende des Ersten Weltkriegs bis heute. sg4n2n Sprachraum 12 Textkompetenz Literarische Bildung Maturatextsorte: Textinterpretation „Ein Jahrtausendautor“ – Franz Kafka Dass Franz Kafka (1883−1924) „in der deutschsprachigen Literatur unangefochten den allerersten Rang behauptet [und von ihm] ohne Übertreibung gesagt werden kann, dass er nicht nur ein Jahrhundertautor ist, sondern wie Homer, Vergil, Dante, Shakespeare ein Jahrtausendautor“ , so begeistert äußert sich die deutsche Autorin Sibylle Lewitscharoff 2011 in ihrer Poetikvorlesung an der Universität Frankfurt. Und ihre österreichischen Kolleginnen und Kollegen tun es ihr gleich. In dem Ende 2016 publizierten Band „Einfache Frage: Was ist gute Literatur?“, wo sich 16 österreichische Autorinnen und Autoren zur Titelfrage des Buches äußern, ist Kafka der meisterwähnte Autor, weil er einfach „herausragend gute Literatur“ geschrieben hat. DIE LITERATUR: „DIE AXT FÜR DAS GEFRORENE MEER IN UNS“ Rätselhaftes darzustellen, zu schockieren, die Leser den Vieldeutigkeiten eines Textes auszusetzen und ihm die Arbeit der Interpretation selbst zu überlassen, ist Kafkas ausdrückliche Absicht und macht für ihn den Wert von Literatur aus. So schreibt der Autor in einem Brief, man sollte „überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? […] Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ Und Rätselhaftes begegnet den Figuren – und den Leserinnen/Lesern – bei Kafka ständig. Der Text „Die Verwandlung“ (1912) beginnt mit folgenden Sätzen: Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen. „Was ist mit mir geschehen?“, dachte er. Es war kein Traum. Das Ende der Erzählung: Gregor, bei dessen Anblick die Mutter in Ohnmacht fällt, wie er mit seinen zappelnden Beinchen im Zimmer herumkrabbelt, und der vom Vater mit Äpfeln bombardiert wird, von denen einer in Gregors Rücken stecken bleibt, stirbt als „Ungeziefer“ in seinem Bett, die Familie ist sehr erleichtert. Auch im Roman „Der Prozess“ (1914/15) liegt die Hauptperson, der Bankangestellte Josef K., noch im Bett, als das Unheil eintrifft: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Zunächst meint er, „es handle sich wohl um als einen groben Spaß, den ihm aus unbekannten Gründen […] die Kollegen in der Bank veranstaltet hatten.“ Dann versucht Josef K. zu erfahren, welches Vergehen ihm zur Last gelegt wird. Doch niemand gibt ihm seine Schuld bekannt. Der „Prozess“ gegen ihn endet deshalb auch nicht, wie bei juridischen Verfahren üblich, mit einer Verhandlung. So wie am Beginn des Romans zwei Männer in K.s Zimmer auftauchen und ihn aus seinem gewohnten Leben werfen, so tauchen im Schlusskapitel zwei Männer auf, um den „Prozess“ zu beenden. Sie führen ihn zu einem Steinbruch: „[An] K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. „Wie ein Hund!“, sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben . ÜBERALL RÄTSEL, ÜBERALL SCHEITERN: „EINE KAISERLICHE BOTSCHAFT“ So wie in der „Verwandlung“ und im „Prozess“ scheitern im gesamten Werk Kafkas die Hauptfiguren. Wenn sie ein Ziel erreichen wollen, treffen sie immer wieder auf unerklärliche Hindernisse, kommen meist nicht an oder verfehlen ihr Ziel: Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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