Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

145 SOLLEN WIR WEGSCHAUEN? Katastrophen und Kriege sind imstande, alle zivilisatorischen Schranken niederzureißen. Sollen wir die ins Haus gelieferten Bilder von Gräueltaten anschauen oder sollen wir wegschauen? Das folgende Interview mit dem Grazer Philosophen Peter Strasser setzt sich mit dieser Frage auseinander. Es trägt den Titel „Die Bilder machen uns scharf“ und befasst sich namentlich mit Folterbildern aus dem so genannten Zweiten Irakkrieg und der nachfolgenden Besetzung des Irak durch Truppen der USA und Großbritanniens von 2003 bis 2011. Die Bilder sind so gefährlich, weil sie uns in einen emotionalen Ausnahmezustand versetzen? Strasser: Wir werden durch die Bilder scharfgemacht. Wir sind bereit, Dingen zuzustimmen, die sich auf einer ganz archaischen Ebene bewegen. „Aug um Aug, Zahn um Zahn“. Die Bilder verführen uns dazu, nur noch auf der Affektebene zu arbeiten. Die Affekte sind aber primitiv. Ein Mal sind wir gegen die Amerikaner und wünschen sie in die Hölle, wenn wir uns die Folterbilder anschauen. Das andere Mal sind wir dafür, dass die Amerikaner nur fleißig weiterfoltern, weil ein unschuldiger Amerikaner grausam enthauptet wurde. Das heißt, die Schandbilder sind gar nicht aufklärerisch, sondern machen uns verrückt? Strasser: Ja. […] Man wird durch die Bilder hin- und hergerissen. Sie stoßen uns ja ab. Das Problem ist, dass wir durch dieses Bilder-Pingpong nicht mehr wissen, wohin wir gestoßen werden. Heute sind wir für die Todesstrafe, morgen dagegen, je nachdem, welche Bilder wir gerade vor uns haben. Wir sind, was unsere rationale, moralische Urteilsfähigkeit betrifft, nicht mehr kompetent. Jahrhunderte, in denen wir mühsam unsere Affekte gebändigt haben, sind plötzlich wie weggeblasen? Strasser: Die ganze Kultur hätte die Aufgabe, uns in die Lage zu versetzen, auf unsere Affekte kontrolliert zu reagieren. Es gibt Ausnahmen, die sozial keinen Schaden stiften. Etwa: Wenn wir uns auf dem Fußballplatz die Seele aus dem Leib brüllen. Aber jetzt kommen diese Bilder und schaffen eine Gefühlssituation, die man als Zuschauer nicht mehr beherrschen kann. In die Abscheu mischt sich auch Lust, sonst wäre der Ansturm auf die Internetseiten […] nicht erklärbar. Woher kommt der Kitzel? Strasser: Das Bild ist das Bild, ich kann es so oder so benützen. […] Ich kann es […] auch im Sinne einer perversen Pornographie benützen. Ich empfinde einen Kitzel, der bei manchen sogar sexuell kodiert ist. Es gibt eine Gier, sich so etwas anzuschauen. Wenn das Türl einmal aufgemacht wird, dann ist das Ganze wie eine grässliche Peepshow. Das Internet bietet die Möglichkeit, dass jeder ins Kämmerchen geht, einschaltet und sich wie in einer Peepshow eine Enthauptung anschaut. So ist der Mensch. […] Man könnte einwenden: Der Mensch war doch immer Voyeur. Im Mittelalter waren Hinrichtungen Volksfeste. Strasser: Das ist aber auch der springende Punkt. Sie waren im Mittelalter Volksfeste und wir betrachten es als eine unserer zivilisatorischen Errungenschaften, dass dieser Spuk heute vorbei ist. […] Selbst wenn es uns angeboten würde: Wir gehen als zivilisierte Menschen nicht mehr zu Hinrichtungen. Wir lassen das nicht mehr zu. Nur, wenn jemand ein Türl aufmacht, dann kann man sicher sein, dass wir wieder dort sind. Was soll der Medienkonsument tun? Ist etwas gewonnen, wenn er sich Folterbildern verweigert? Strasser: Wirklich frei ist er nie. Die Bilder sind zu allgegenwärtig; aber wenn er merkt, dass es eine Offensive gibt, kann und soll er sich ihnen verweigern. Ich muss ja nicht Fernsehschauen. […] Es macht einen Unterschied, ob man solche Bilder nolens volens zur Kenntnis nimmt oder ob man bereits als Konsument diese Lust des ständigen Gesinnungswechsels in sich spürt: Heute schlägt mein Herz für die irakischen Gefangenen, morgen für die Amerikaner, weil einer der Ihren geköpft wurde. Man ist einmal für dies, einmal für jenes, nur eines ist man nicht mehr: ein Subjekt, das zu Objektivität und Unparteilichkeit fähig ist. Aber erst die Suche nach einem unparteilichen Urteil macht uns fähig, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen […]. Textkompetenz Mündliche Kompetenz Mediale Bildung 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 Entscheidungskompetenz hinsichtlich des Medienkonsums erlangen Erläutern Sie mündlich folgende Fragen: Worin liegt die Gefährlichkeit von Katastrophen- und Gräuelbildern, weshalb kann man Sie nicht als „aufklärerisch“ bezeichnen? Welchen Zusammenhang erkennt Strasser zwischen der Faszination durch solche Bilder und der Pornographie? Was sieht der Philosoph als die große, aber immer wieder gefährdete Errungenschaft der Kultur an? Weshalb steigert sich der Voyeurismus durch das Medium Internet? Welche Möglichkeiten der „Bilderverweigerung“ sieht Strasser? 11.4 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verl gs öbv

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