Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

127 Textkompetenz Literarische Bildung Ein geräumiges, grau getünchtes Zimmer im Haus des Fabrikanten Dreißiger zu Peterswaldau. Der Raum, wo die Weber das fertige Gewebe abzuliefern haben. Linker Hand sind Fenster ohne Gardinen, in der Hinterwand eine Glastür, rechts eine ebensolche Glastür, durch welche fortwährend Weber, Weber- frauen und Kinder ab- und zugehen. […] In der Rei- henfolge der Ankunft treten sie vor und bieten ihre Ware zur Musterung. […] Den zu zahlenden Lohn- betrag ruft Expedient Pfeifer dem an einem kleinen Tischchen sitzenden Kassierer Neumann jedes Mal laut zu. Die meisten der harrenden Webersleute glei- chen Menschen, die vor die Schranken des Gerichts gestellt sind, wo sie in peinigender Gespanntheit eine Entscheidung über Leben und Tod zu erwarten ha- ben. Es haftet allen etwas Gedrücktes […] an. Die Männer […] sind in der Mehrzahl schwachbrüstige, hüstelnde, ärmliche Menschen mit schmutzigblasser Gesichtsfarbe: Geschöpfe des Webstuhls, deren Knie infolge vielen Sitzens gekrümmt sind. Ihre Weiber […] sind aufgelöst, gehetzt, zerlumpt, wo die Männer geflickt sind. Die jungen Mädchen sind mitunter nicht ohne Reiz; wächserne Blässe, zarte Formen, große, hervorstehende, melancholische Augen […] . 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 KASSIERER NEUMANN, Geld aufzählend . Bleibt sechzehn Silbergroschen zwei Pfennig. ERSTE WEBERFRAU, sehr abgezehrt, streicht das Geld ein mit zitternden Fingern . Sind Se bedankt. NEUMANN, als die Frau stehen bleibt . Nu? stimmt‘s etwa wieder nich? ERSTE WEBERFRAU, bewegt, flehentlich . A paar Fenniche uf Vorschuss hätt’ ich doch halt a so neetig. NEUMANN Ich hab’ a paar hundert Taler neetig. Wenn’s ufs Neetighaben ankäm’! Schon mit Auszahlen an einen andern Weber beschäftigt […]. BÄCKER ist gekommen. Ein junger, ausnahmsweise starker Weber, dessen Gebaren ungezwungen, fast frech ist. […] PFEIFER zu einem Weber . Was bringt Ihr? WEBER HEIBER legt seine Webe auf. Während Pfeifer untersucht, tritt er an ihn und redet halblaut und eifrig in ihn hinein . Sie werden verzeihen, Herr Feifer, ich mucht Sie gittichst gebet’n hab’n, ob Se vielleicht und Se wollt’n so gnädig sein und wollt’n mir den Gefall’n tun und täten mir den Vorschuss desmal nich abrechn’. PFEIFER höhnt . Das is eben wieder‚ ne richt’ge Schluderarbeit. […] Wer fleißig is, seine Sache versteht und in der Furcht Gottes seine Arbeit verricht’t, der braucht ieberhaupt nie keen’n Vorschuss nich. […] WEBER HEIBER unterdrückt Tränen, steht gedemütigt und hilflos . ERSTE WEBERFRAU, laut, gleichsam an das Gerechtigkeitsgefühl aller appellierend . Ich bin gewiss ni faul, aber ich kann ni mehr aso fort. Ich hab’ halt doch zweemal an Iebergang gehabt. […] Ich hab’ schonn viele Woch’n keen’n Schlaf in a Aug’n gehabt, und ’s wird auch schonn wieder gehn, ich wer de Schwäche wieder abissel raus krieg’n aus a Knoch’n. Aber Se miss’n halt ooch a eenziges bissel a Einsehn hab’n. Inständig, schmeichlerisch flehend . Sind S’ock scheen gebet’n und bewilligen rn’r desmal a paar Greschl. PFEIFER, ohne sich stören zu lassen . Fiedler elf Silbergroschen. ERSTE WEBERFRAU Bloß a paar Greschl, dass m’r zu Brote komm’n. D’r Bauer borg nicht mehr. Ma hat a Häufl Kinder … […] NEUMANN Heiber zehn Silbergroschen. Geht ab fünf Silbergroschen Vorschuss. Bleiben fünf Silbergroschen. WEBER HEIBER tritt heran, sieht das Geld an, steht, schüttelt den Kopf, als könnte er etwas gar nicht glauben und streicht das Geld langsam und umständlich ein . […] DER ALTE BAUMERT sagt Heiber ins Gesicht . Jaja, Franze! Da kenn eens schon manchmal’n Seufzer tun. […] Wo eemal’ d’Armut is, da kommt ooch Unglicke ieber Unglicke. Da is kee Halt und keene Rettung. WEBER HEIBER Was hasd’nn da eingepackt in dem Tiechl? DER ALTE BAUMERT Mir sein halt gar blank deaheime. Da hab’ ich halt unser Hundl schlacht’n lassen. Viel is nit dran, a war halb d’rhungert. ’s war a klee, nettes Hundl. Selber abstechen mocht’ ich’n nich. Ich konnt mer eemal kee Herze nich fass’n. PFEIFER hat Bäckers Webe untersucht, ruft . Bäcker dreizehntehalb Silbergroschen. BÄCKER Das is a schäbiges Almosen, aber kee Lohn. PFEIFER Wer abgefertigt is, hat’s Lokal zu verlassen. BÄCKER zu den Umstehenden, ohne seine Stirn seine Stimme zu dämpfen . Das is a schäbiges Trinkgeld, weiter nischt. Da soll eensam Webstuhl treten vom friehen Morg’n bis in die sinkende Nacht. Und wenn man achtz’n Tage ieberm Stuhle geleg’n hat, Abend fer Abend wie ausgewund’n, halb drehnig vor Staub und Gluthitze, da hat nun sich glicklich dreiz’ntehalb Beehmen erschind’t. PFEIFER Hier wird nich gemault! BÄCKER Vo Ihn lass ich mersch Maul noch lange nich verbiet’n. PFEIFER springt mit dem Ausruf Das mecht ich doch amal sehn! nach der Glastür und ruft ins Kontor . Herr Dreißicher, Herr Dreißicher, mechten Sie amal so freundlich sein! DREISSIGER kommt . Junger Vierziger . Fettleibig, asthmatisch . Mit strenger Miene . Was gibt’s denn, Pfeifer? PFEIFER Bäcker will sich’s Maul nich verbieten lassen. DREISSIGER gibt sich Haltung, wirft den Kopf zurück, fixiert Bäcker mit zuckenden Nasenflügeln . 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 Nur zu Prüfzwe ken – Eigentum des Verlags öbv

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