Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

119 Der Naturalismus 1885−1900 ƒƒ Hauptthemen sind die Abhängigkeit des Denkens und Handelns vom sozialen Milieu: Der Mensch ist kein autonomes Wesen. Die mit der Industrialisierung einhergehende Armut, Ausbeutung, Verelendung werden zu bevorzugten Motiven. ƒƒ Die beabsichtigte genaue Darstellung der gesellschaftlichen Realität ergibt sich durch exakte Beobachtung und die Reduktion des Subjektiven in der Dichtung: Kunst = Natur – x; das subjektive „x“ soll möglichst klein sein. ƒƒ Bevorzugte Gattung ist das Drama mit seiner Möglichkeit der direkten Visualisierung der Themen auf der Bühne. Monologe, Verse werden als realitätsfern abgelehnt. Der bedeutendste Vertreter der naturalistischen Literatur ist Gerhart Hauptmann (1861−1946) mit seinen Dramen wie „Die Weber“ oder „Die Ratten“, die zu Theaterskandalen werden. „L’art pour l’art“ und Einblicke ins Unbewusste – die Wiener Moderne ZWEI BEGRIFFE UND EIN PROGRAMM Der Naturalismus hatte gefordert, dass die Kunst eine gesellschaftliche Funktion erfüllen soll, indem sie soziale und politische Missstände zum Thema macht und so auf deren Veränderung hinzielt. Die „Wiener Moderne“, für die auch oft der Begriff „Fin de Siècle“ verwendet wird und in der die österreichische Kunst und Literatur – und auch die Wissenschaft – Weltgeltung erhält und zur Basis der Moderne wird, nimmt eine völlig konträre Position ein. Angeregt von den französischen Dichtern, wie Arthur Rimbaud, Paul Verlaine und Charles Baudelaire, lautet das Programm des Fin de Siècle: „L’art pour l’art“ – die Kunst ist nur für die Kunst da, sie hat keinerlei politische, soziale, moralische oder sonstige Zwecke, sie soll eine „poésie pure“ sein – nichts als reine Poesie. Herausragende Vertreter dieses „L’art pour l’art“-Prinzips sind Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke. Ein wichtiger Einflussfaktor auf Literatur und Kunst ist die Psychoanalyse von Sigmund Freud. Das zentrale Thema der Psychoanalyse ist die Frage, wie die menschliche Persönlichkeit ‚funktioniere‘. 80−90 % der menschlichen Entscheidungen stammen laut Freud aus dem „Unbewussten“, dem triebhaften Teil unserer Psyche. Die Auseinandersetzungen zwischen dem triebhaften, stark von Sexualität und Aggression bestimmten „Es“ und dem „Über-Ich“, dem „Gewissen“, welches die Wertvorstellungen einer Gesellschaft spiegelt, Gut und Böse und die moralischen Grenzen definiert, bestimmen die Persönlichkeit. Zwischen beiden steht das „Ich“, das Lösungen finden muss zwischen den triebhaften Wünschen des Es und den hohen Anforderungen des Über-Ich. Einen Versuch dieses Ausgleichs stellt für Freud menschliche Kultur dar, welche die Triebe eindämmt. Besonders in den Werken Arthur Schnitzlers finden sich solche Einblicke ins Unbewusste. DIE LYRIK ALS EINE ZENTRALE GATTUNG DES FIN DE SIÈCLE: HUGO VON HOFMANNSTHAL UND RAINER MARIA RILKE Eine literarische Gattung eignet sich besonders, „reine Poesie“ zu sein, mit Klängen, Symbolen, Metaphern, Farb- und Lautsymbolik eine eigene Welt der Sprache zu schaffen, nämlich die Lyrik. Hugo von Hofmannsthal „Die Worte sind alles […]. Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben“ , so beschreibt Hofmannsthal den Vorrang der Sprache und die Autonomie des Kunstwerks, in dem immer ein unauflösbarer, nicht mit dem bloßen Verstand auflösbarer Rest bleibt. Die erste der drei „Terzinen über Vergänglichkeit ist dafür ein Beispiel: Literarische Bildung Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen: Wie kann das sein, dass diese nahen Tage Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen? Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt, Und viel zu grauenvoll, als dass man klage: Dass alles gleitet und vorüberrinnt. Und dass mein eignes Ich, durch nichts gehemmt, Herüberglitt aus einem kleinen Kind Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd. Dann: dass ich auch vor hundert Jahren war Und meine Ahnen, die im Totenhemd, Mit mir verwandt sind wie mein eignes Haar, So eins mit mir als wie mein eignes Haar. 2 4 6 8 10 12 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=