Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

SPrACHrAuM 9  Dichten vom Realismus bis zum Expressionismus 118 „unrealistisch“ abgelehnt, Mundart und Dialekt finden Eingang ins Drama. Erbost und vorzeitig verließ der deutsche Kaiser Wilhelm I. während der Aufführung von Gerhart Hauptmanns Drama „Die Weber“ 1894 seine Loge im Deutschen Theater Berlin und kündigte sein Theaterabonnement. Das aus Zensurgründen in privatem Kreis uraufgeführte Drama spielt in einem der Weberzentren des 19. Jahrhunderts, in Schlesien. Hauptmann eröffnet das Stück mit einer Szene in der herrschaftlichen Villa des Fabrikanten Dreißiger, in der ein „Geldschrank“ und ein „Gewehrschrank“ dominieren. Die Weber, die laut Szenenanweisung wie Menschen aussehen, „die vor die Schranken des Gerichts gestellt sind, wo sie in peinigender Gespanntheit eine Entscheidung über Leben und Tod zu erwarten haben […], flachbrüstige, hüstelnde, ärmliche Menschen“ , müssen dort ihr Baumwollgewebe abliefern. Dreißiger und sein Angestellter Pfeifer drücken die Preise bis ins Extrem. Aufbegehren scheitert wie das Bitten um Vorschuss, um essen und überleben zu können. Die zweite Szene des Dramas bietet einen bewussten Kontrast: Von der Villa des Fabrikanten führt Hauptmann die Zuschauer in die Hütte des Webers Baumert: eng, schadhaft, „mit Papier verklebte und mit Stroh verstopfte Fensterlöcher“. […] „Ein paar Kartoffelschalen sind zum Dörren auf Papier gelegt. […] Das Getöse der Webstühle, […] davon Erdboden und Wände erschüttert werden, […] erfüllt den Raum.“ Zu essen gibt es nichts außer einem zugelaufenen Hund. Der wird geschlachtet, da er ohnehin verhungern müsste. Aus der extremen Not entsteht der Gedanke an Widerstand. Neben dem Weber Ansorge ist auch der ehemalige Soldat Moritz Jäger in der Hütte, er kann lesen und schreiben und er kennt deshalb auch das „Weberlied“. Er liest, schülerhaft buchstabierend, schlecht betonend, aber mit unverkennbar starkem Gefühl. Alles klingt heraus: Verzweiflung, Schmerz, Wut, Hass, Rachedurst. Es kommt zum Aufruhr, die Villa des Fabrikanten Dreißiger, dominiert von einem „Geldschrank“ und einem „Gewehr- schrank“, wird besetzt. Dann beschließen die Weber die Fabriken zu stürmen, denn die mechanischen Webstühle nehmen ihnen ihre Arbeit weg: „Das ganze Elend kommt von den Fabriken“ , schreit einer. Der Webertrupp wächst, bald sind es 1500. Besonders kämpferisch sind die Frauen, sie leiden nicht nur für sich, sondern auch für ihre Kinder. Doch inzwischen ist schon das Militär angerückt und schlägt den Aufstand blutig nieder. Ausgerechnet der alte Weber Hilse, der als einziger gegen den Aufstand ist, wird von einer Kugel tödlich getroffen. Das Drama endet ohne Perspektive auf Änderung der sozialen Verhältnisse. DER ALTE BAUMERT springt auf, hingerissen zu deliranter Raserei . Haut und Hemde. All‘s richtig, ‚s is der Armut Haut und Hemde. Hier steh ich, Robert Baumert, Webermeister von Kaschbach […]. Ich bin ein braver Mensch gewest mei lebelang, und nu seht mich an! Was hab ich davon? Wie seh ich aus? Was hab‘n se aus mir gemach? Hier wird der Mensch langsam gequält. Er reckt seine Arme hin. Dahier, greift amal an, Haut und Knochen. Ihr Schurken all, ihr Satansbrut!! Er bricht weinend […] auf einem Stuhl zusammen. ANSORGE […] erhebt sich, am ganzen Leibe zitternd vor Wut, stammelt hervor . Und das muß anderscher wern, sprech ich, jetzt uf der Stelle. Mir leiden‘s nimehr! Mir leiden‘s nimehr, mag kommen, was will. Textkompetenz Literarische Bildung […] Hier wird der Mensch langsam gequält, hier ist die Folterkammer, hier werden Seufzer viel gezählt als Zeugen von dem Jammer. Die Herrn Dreißiger die Henker sind, die Diener ihre Schergen […] Ihr Schurken all, ihr Satansbrut ... Ihr höllischen Kujone 1 , ihr fresst der Armen Hab und Gut, und Fluch wird euch zum Lohne. Hier hilft kein Bitten und kein Flehn, umsonst ist alles Klagen, „Gefällt‘s euch nicht, so könnt ihr gehen am Hungertuche nagen 2 “. Nun denke man sich diese Not und Elend dieser Armen, zu Haus oft keinen Bissen Brot, ist das nicht zum Erbarmen? Erbarmen, ha! ein schön Gefühl, euch Kannibalen fremde, ein jedes kennt schon euer Ziel, ‚s ist der Armen Haut und Hemde. 1 Kujon: Schuft 2 Am Hungertuch nagen: extremen Hun- ger leiden; entstellt aus: „am Hunger- tuch nähen“. In der Fastenzeit wurde/ wird in den Kirchen der Altar mit dem Fastentuch („Hungertuch“) verhüllt. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 2 4 6 Die Sprache und das Thema einer Dramenszene analysieren; die Funktion von Szenenanweisungen erkennen Welche sozialen Fakten lassen sich aus dem Weberlied und aus Baumerts Sätzen herauslesen? Welche Funktion haben die für den Naturalismus charakteristischen genauen Personenbeschreibungen und Szenenanweisungen? Inwiefern ist die Sprache, vor allem die Baumerts und Ansorges, ‚typisch‘ naturalistisch? 9.4 Nur z Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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