Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

103 Kompetenztest 7 Hauptkompetenz und Teilkompetenz Textkompetenz, Literarische Bildung: Textsorten und ihre strukturellen Merkmale erkennen und hinsichtlich ihrer Inhalte und Aussage analysieren; Texte zueinander in Beziehung setzen Weitere geforderte Kompetenzen Schriftliche Kompetenz Methodisch-didaktische Hinweise Einzelarbeit Hilfsmittel keine Zeitbedarf 50 Minuten Hatten Sie eine eher glückliche oder unglückliche Kindheit – so insgesamt? Turrini: Meine Kindeswelt war geprägt von Karambolagen. Wir waren drei, später vier Brüder, weil vom Vater noch ein italienischer Sohn dazugekommen ist. Unsere Mutter hat uns vor dem Einschlafen immer schöne Geschichten von großer christlicher Gerechtigkeit erzählt. Stets türmten sich Schwierigkeiten auf und am Ende ging alles gut aus. In der Wirklichkeit eines Kärntner Dorfes in den Fünfzigerjahren ging gar nichts gut aus. Unter den Kindern ging es brutal zu, ihre Eltern waren Bauern, Kleinbauern, Häusler. Ich erinnere mich, wie Kinder mit der Gummiwurst, abgerissenen Keilriemen, geschlagen wurden. Da ging es nicht darum, einem Frosch über die Straße zu helfen, sondern ihn mit einem Strohhalm aufzublasen. Es zählte Härte, nicht Güte und Gerechtigkeit. Wenn ich damit nicht fertig wurde und zur Mutter lief, hat sie mich getröstet und gesagt, ich sei eben besonders sensibel und etwas Besseres. Das war auch furchtbar, weil man nichts Besseres ist, und außerdem brachte mich das noch weiter weg von den anderen Kindern. Wenigstens sind Sie nicht geschlagen worden. Turrini: Nein, nie. Meine Mutter war eine sehr warmherzige und gerechte Frau. Wie war Ihr Verhältnis zu den Brüdern? Unter Brüdern geht es ja oft ziemlich hart zu. Turrini: Nein, das war bei uns anders. Der Hans war zwei Jahre älter als ich, der ist immer mit den Größeren abgehauen, und ich habe ihn beneidet. Ich musste immer auf den Jüngeren, den Walter, aufpassen und ihn mit mir herumtragen. Ich habe bis heute das Gefühl, ich muss alle Jüngeren, Schwächeren, Ärmeren, Dünneren auf meine Schultern laden und über den reißenden Bach tragen. […] Wir Kinder waren tagsüber uns selbst überlassen. Das ging nicht anders, die Eltern schufteten, damit wir aus der Armut herauskommen. Wir lebten zu sechst in einem Raum und ein Klo gab es nur unten im Hof. Mir kam das allerdings völlig normal vor. […] Waren Ihre Eltern stolz auf Sie? Turrini: Mein Vater ist gestorben, als ich 19 war. Bis heute tut es mir weh, dass er meinen Weg nicht mitgekriegt hat, dass ich nicht mehr mit ihm reden kann. Zu meiner Mutter hat es viele Jahre ein schwieriges Verhältnis gegeben, weil ihr meine schriftstellerische Arbeit fremd war. […] In den letzten Jahren ihres Lebens sind wir uns sehr nahegekommen. Ich habe verstanden, was es hieß, in der Nachkriegszeit vier Kinder durchzubringen, und sie hat ein bisschen besser verstanden, was mich im Leben und in der Kunst umtreibt. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 KT 1 Ein Gedicht erschließen und interpretieren Erschließen Sie das um 1980 verfasste Gedicht von Peter Turrini mit Hilfe der „Sechs Schritte zur Interpretation“. Verfassen Sie nun diese Interpretation (540−660 Wörter). Beschreiben Sie das Gedicht, setzen Sie dessen Inhalt in Beziehung zu den Aussagen, die Peter Turrini im angeschlossenen Interview macht, und erörtern Sie die von Turrini formulierten Ursachen für die Behauptung „Die Kindheit ist ein schreckliches Reich“. a b Textkompetenz Schriftliche Kompetenz Literarische Bildung Die Kindheit ist ein schreckliches Reich. Die Hände, die dich streicheln, schlagen dich. Der Mund, der dich tröstet, brüllt dich an. Die Arme, die dich hochheben, erdrücken dich. Die Ohren, die dir zuhören, verstehen alles falsch. Die Decke, die dich wärmt, gehört deinem älteren Bruder. Die Wand, der du ein farbiges Zeichen von dir gibst, wird einmal im Jahr übermalt. Der Satz, den du sagst, ist kindisch. Wenn du mit deinen Sätzen und Zeichen woanders hingehen willst, dann heißt es, das geht die fremden Leute nichts an. Wohin soll ich gehen, wenn die eigenen Leute so fremd zu mir sind? Ich gehe nirgendwohin. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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