Sprachräume 2, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

SPRACHRAUM 8 Die Epik 98 Textkompetenz Literarische Bildung Gabriele Wohmann: „Glorias Witz“ Der Text „Glorias Witz“ von Gabriele Wohmann, die sich selbst als dem Schreiben verfallene „Graphomanin“ sieht, stammt aus dem Band „Schwarz und ohne alles“. In 17 knappen Skizzen zeigen sich die Ausrutscher, Ungeschicklich- keiten und Unglücksfälle des Lebens: Eine Hausfrau lässt zum dritten Mal eine Thermoskanne auf der Kochplatte dahinschmelzen und versucht panisch, die Schäden zu beseitigen. Ehepaare belauern einander eifersüchtig. Ein Witz aus der Tageszeitung wird zur plötzlichen Realität. Glorias Witz Die Witzrubrik in der Sonntagszeitung hob er sich im- mer bis zum Schluss auf. Die Mittagspause ging ihrem Ende zu, was bedauerlich war; aber nicht mehr lang, und Gloria riefe ihn zum Tee ins entschieden kühlere Wohnzimmer, wo der große Ventilator seine leise sum- menden Runden drehte und die Jalousien die Sonne aussperrten. […] So, jetzt gleich: die Spalte mit den Witzen. Einen davon hatte Gloria sogar mit einem kleinen Kreuz markiert. Meistens las sie ihm die Witze vor – sie las gern vor, er hörte gern zu –,aber heute hat- te sie sich gleich nach dem schnell runtergekippten Espresso verzogen. Er vermutete sie im angrenzenden Schlafzimmer, in Rufweite – offene Türen überall –, wo sie ihre Andacht vorm aufgeklappten Altar abhielte, ih- rem Kleiderschrank. Sie waren am Abend bei den Sil- bermanns zu einer Gartenparty eingeladen. Die Silber- manns waren nicht so wichtig, aber das Ehepaar Mo- rawetz käme auch, und Gloria würde überlegen: Worin hat Anja mich noch nicht gesehen, und Anja würde auf dem Heimweg mit Fred Morawetz über Glorias Auf- machung reden. Oh wirklich, doch, dieser Witz hat was, er lachte in sich hinein. Er ist nicht nur ein Witz, er hat so was wie Tief- gang. Andererseits kam er ihm auch bekannt vor, und vielleicht hatte Gloria ihn deshalb für ihn angekreuzt. […] Wir kennen den schon, aber der Witz hat was, rief er ins Schlafzimmer, in ruhiger ehelicher Gewissheit, dass Gloria wüsste, was er meinte. Alles ausgelesen. Er döste noch ein bisschen vor sich hin. Der Witz handelte von einem Mann, einem be- rühmten Schauspieler, der seiner Frau zuruft: Hast du schon die heutige Klatschspalte gesehen? Steht drin, du hättest mich verlassen. Und der berühmte Schauspieler lacht ganz gemütlich vor sich hin, dann ruft er noch mal nach seiner Frau und ob sie es gelesen hätte, und sie antwortet nicht, der berühmte Schauspieler ruft und ruft ihren Namen, nichts. Der Witz endete mit drei Pünktchen. Im Nichts. ‚Der Witz ist mehr als einWitz’, er ist ein kleines Kunst- werk, dachte er, und dann machte sein Bewusstsein die drei Pünktchen vom Witzende, er trudelte aus dem Dösen in den Halbschlaf. Doch ehe der sich zum Tief- schlaf vervollständigen konnte, zerrte Arthurs garstig zeternde Stimme ihn aus dieser Sauce der Benommen- heit: Tschautschatz, tschautschatz! Und immer wieder: Tschautschatz! Das war der Beo, den Gloria mit Engels- geduld das Sprechen gelehrt hatte, und es sollte Ciao, Schatz heißen. Er hatte sich nie besonders für ihre Un- terrichtsmethode interessiert. Versuchs mit was Leich- terem, hatte er ihr geraten. Lehr ihn Lora, das können sie alle, Papageien zum Beispiel rufen immer Lora. Lora war außerdem Arthurs Frauchen, und die ant- wortete jetztwie jedesMal nachArthursTschautschatz- Gezeter mit dem, was sie konnte: Siiesein, siiesein, siie- sein! Was so viel hieß wie Sieh es ein. Ihr verdammten Viecher, ihr habt mich geweckt, sagte er mehr zur Robinie und zu der Markise als zu den Vögeln, die ihn doch nicht hören würden. Sie lebten in der Veranda unter dem Balkon, eine Etage tiefer. Tschautschatz! SiiieseinRuhe, rief er jetzt. Ja, ver- dammt, ciao und ich sehs ein! Mit normaler Stimme, nur leicht erhoben, […] rief er: Gloria! Erstens: Ich hab rausgefunden, dass in dem Witz vom berühmten Schauspieler, du weißt schon, der die Klatschspalte liest, du weißt schon, und er lacht über diese Idioten von Klatschspaltenschreibern, und dass dieser Witz, na ja, es steckt mehr drin, es ist eine Geschichte, ein kleines Kunstwerk, verstehst du? Tschautschatz , höhnte unten Arthur, und seine Frau Lora klang keine Spur netter: Siiiesein! Ja verdammt, und zweitens: Gib den Vögeln was zu futtern. Zieh einfach das Hellgelbe an, es steht dir im- mer, es macht immer was her ... Ein Hellgelbes würde sie sicher auch haben. Sie hatte jede Farbschattierung. […] Und dann, rief er ins Schlafzimmer, fragt der berühm- te Schauspieler seine Frau, ob die es auch gelesen hat, dass sie ihm davongelaufen ist ... na, du weißts ja sel- ber, und was ich so gut dran finde, ist der offene Schluss. Einfach drei Pünktchen, man hört richtig, wie seine Worte verhallen, in einem Schock verhallen sie … Er hob die Stimme. Gloria! He, Gloria! Verflucht, er musste aufstehen. Wahrscheinlich war sie längst nicht mehr im Schlafzimmer. Machte unten den Tee. […] Gloria!, rief er beim Aufstehen. Gloria! beim Durch- queren des Schlafzimmers und das Treppenhaus run- ter. Gloria! Gloria! Glo – ri – a! Die Vögel mischten sich jetzt beide ein. Plötzlich auf dem Treppenabsatz blieb er stehen, er griff sich an die heiße Stirn und sag- te ziemlich leise: Aha, so ist das. Genial. Es steckt wirk- lich mehr dahinter, er hat was, der Witz. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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