Sprachräume 2, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

169 Text 1: Hans-Werner Goetz: Der höfische Ritter Das Ideal des höfischen Ritters […] war vielleicht am meisten von der Wirklichkeit entfernt, doch trug es dazu bei, den Ritter an bestimmte Verhal- tensregeln, an einen bestimmten Ehrencodex zu binden. Bezeichnend ist eine Szene aus Hartmanns Erec [Vers 6507ff.]: Dass ein Graf seine junge Frau (Enîte) schlug, erboste alle seine Ritter, obwohl er rein rechtlich dafür nicht zu belangen war. Im Mit- telpunkt dieses höfischen Rittertums stand ein Tu- gendsystem als Ausdruck der neuen Ritterethik. Der Ritter musste dauernd seine Ritterlichkeit be- weisen, indem er durch seine Tapferkeit wie durch sein Benehmen […] vor allem mâze ([…]walten ließ. […] Der Alltag des Ritters ist schwerer zu be- schreiben als der Alltag der Bauern, der imWesent- lichen aus Arbeit bestand. Bei ritterlichem Leben denkt man eher […] an Feste und Turniere, die je- doch keineswegs alltäglich waren, sondern nur ge- legentliche Höhepunkte darstellten. Folgt man den Quellen, so bestand die Arbeit des Ritters imKampf (und als mühevoller Kampf ist das mittelhochdeut- sche arebeit tatsächlich zu übersetzen). […] Als Erec mit Enîte zu seiner zweiten Abenteuerfahrt aufbrach, wurden sie schon in der ersten Nacht zu- nächst von drei, dann von fünf weiteren Räubern überfallen; am nächsten Morgen empfing sie ein Burgherr; ein anderer Gastgeber wollte Enîte für sich gewinnen. Erec bezwang ihn und sechs seiner Leute; […] kurz darauf musste er gegen einen zwer- genhaften Landesherrn einen Zweikampf bestehen; […] nach dem Aufbruch trafen sie schon nach ei- ner Meile auf eine Frau, deren Mann Erec aus der Gewalt zweier Riesen befreite […]. 18 20 22 24 26 28 30 32 2 4 6 8 10 12 14 16 Nennen Sie einige Begriffe des Tugendsystems, die ein idealer Ritter anstreben muss. Was bedeutet der Begriff mâze ? Welches Epos welchen Autors nimmt Goetz als Beispiel für die Erklärung der ritterlichen Welt? Was bestimmte, zumindest in den Epen, das Leben des Ritters? Wie lautet der mittelalterliche Ausdruck dafür? In welcher Sprache sind die mittelalterlichen Epen abgefasst? Nennen Sie weitere Epiker und ihre Werke. Wer ist der bedeutendste Minnesänger dieser Epoche? Erläutern Sie mündlich die Thematik und die Unterschiede von/zwischen Hartmann von Aues „Der arme Heinrich“ und Markus Werners „Bis bald“. Welche Eigenschaft der Menschen nimmt Eulenspiegel aufs Korn? Welche Aufgabe hat der Narr in der Literatur der Epoche? Nennen Sie ein weiteres Beispiel für die „Narrenliteratur“ dieser Zeit. In dieser Epoche erscheint auch erstmals die wohl berühmteste Figur der deutschsprachigen Literatur: Um wen handelt es sich? Text 2: Ein kurtzweilig lesen von Dil Ulenspiegel Die 16. Historie sagt, wie Eulenspiegel in Magde- burg verkündete, vom Rathauserker fliegen zu wol- len, und wie er die Zuschauer mit Spottreden zu- rückwies. Bald nach dieser Zeit […] kamer in die Stadt Magde- burg und vollführte dort viele Streiche. Davon wurde sein Name so bekannt, dass man von Eulenspiegel allerhand zu erzählen wusste. Die angesehensten Bürger der Stadt baten ihn, er solle etwas Abenteuer- liches und Gauklerisches treiben. Da sagte er, er wol- le das tun und auf das Rathaus steigen und vom Er- ker herabfliegen. Nun erhob sich ein Geschrei in der ganzen Stadt. Jung und Alt versammelten sich auf demMarkt und wollten sehen, wie er flog. Eulenspiegel stand auf dem Erker des Rathauses, be- wegte die Arme und gebärdete sich, als ob er fliegen wolle. Die Leute standen, rissen Augen und Mäuler auf und meinten tatsächlich, dass er fliegen würde. Da begann Eulenspiegel zu lachen und rief: „Ich meinte, es gäbe keinen Toren oder Narren in der Welt außer mir. Nun sehe ich aber, dass hier die ganze Stadt voller Toren ist. Und wenn ihr mir alle sagtet, dass ihr fliegen wolltet, ich glaubte es nicht. Aber ihr glaubt mir, einem Toren! Wie sollte ich fliegen können? Ich bin doch weder Gans noch Vo- gel! Auch habe ich keine Fittiche, und ohne Fittiche oder Federn kann niemand fliegen. Nun seht ihr wohl, dass es erlogen ist.“ Damit kehrte er sich um, lief vom Erker und ließ das Volk stehen. Die einen fluchten, die anderen lachten und sagten: „Ist er auch ein Narr, so hat er dennoch wahr gesprochen!« Mit Ausnahme des Titels vom Frühneuhochdeutschen in die neuhochdeutsche Schriftsprache übertragen. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 Textkompetenz Schriftliche Kompetenz Literarische Bildung Sprachreflexion Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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