Sprachräume 2, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

161 Textkompetenz Literarische Bildung WELCHES WORT WIR VERWENDEN, ENTSCHEIDET OFT ÜBER DIE WIRKUNG UNSERER AUSSAGE Wörter entscheiden, welche Wirkung Aussagen haben. So hat jüngst eine amerikanische Psychologin Folgendes festgestellt: Wenn in einer Stadt die Kriminalität steigt, dann hängt bei ihrer Bekämpfung viel an den verwendeten Wörtern. Die Psychologin hat in einem ansonsten identischen Text über eine fiktive Stadt die Kriminalität einmal als „Bestie“, das andere Mal als „Virus“ bezeichnet. Bekamen Testleser den Text mit „Bestie“, sprachen sich 71 Prozent für eine Verstärkung der Polizei und eine Verschärfung der Strafen aus. Bei „Virus“ sank dieser Anteil auf 54 Prozent, im Gegenzug erhöhte sich der Anteil derer, die in sozialen Reformen das geeignete Mittel gegen den Kriminalitätsanstieg sahen. AUGENBLICKSKOMPOSITA ALS WORT/UNWORT DES JAHRES UND DAS JUGENDWORT DES JAHRES Besonders häufig finden sich Augenblickskomposita in den Ergebnislisten zu der in den deutschsprachigen Ländern durchgeführten Wahl zum „Wort/Unwort/Jugendwort des Jahres“. Dabei werden jährlich Wörter gewählt, die ein wichtiges Thema des Jahres benennen oder, als „Unwort des Jahres“, verwendet wurden, um Sachverhalte zu verschleiern oder die Menschenwürde zu verletzen. Folgende Begriffe wurden in den letzten Jahren zu Unwörtern des Jahres gewählt oder kamen in die engere Wahl: „Analogkäse“ , laut Jury ein Unwort, das für einen Etikettenschwindel steht. Das damit bezeichnete Produkt hat mit Käse nichts zu tun, es handelt sich um ein Imitat. Sprachlich wird jedoch der Eindruck erweckt, dass es sich um ‚Käse’ handelt. Als weitere Unwörter wurden zum Beispiel „Pleitegriechen“ und „Herkunftskriminalität“ gewählt. „Pleitegriechen“ bedeute eine Pauschalverurteilung aller Griechen, als sich ihr Land in großen finanziellen Schwierigkeiten befand, beziehe sich jedoch nicht auf die „Verursacher der Krise – die Banken –, sondern auf die gesamte griechische Bevölkerung, der unterstellt wird, dass sie arbeitsscheu und Bankrotteure wäre, was in doppelter Weise falsch und herabwürdigend ist.“ Das Wort „Herkunftskriminalität“ unterstelle, dass Die Absicht sprachlicher Formulierungen erkennen Erklären Sie das Ziel und die Absicht von Augenblicksbildungen wie „Belegschaftsaltlasten“ für ältere Mitarbeiter, „Schurkenstaaten“ , „Rentnerschwemme“ , „Seniorenresidenz“ für Altenheim, „Kollateralschäden“ für im Krieg getötete Zivilisten, „Entsorgungspark“ für Müllablageplatz, „Gotteskrieger“ für Terroristen, „Präventivschlag“ für Krieg, „ethnische Säuberung“ für Vernichtung, „national befreite Zone“ für Gebiete, aus denen Menschen anderer Herkunft vertrieben wurden, „Entmietung“ für das Bestreben, Mieter aus dem Haus zu bekommen, „Preiskorrektur“ für Preiserhöhung, „Volumenreduktion“ und „Restrukturierungsabschluss“ für die Entlassung von Arbeitskräften. 13.3 Ein paar Bemerkungen über einen der eigentüm- lichsten und bemerkenswertesten Züge des hier von mir behandelten Gegenstandes: die Länge deutscher Wörter. Manche deutschenWörter sind so lang, dass man sie nur aus der Ferne ganz sehen kann. Man be- trachte die folgenden Beispiele: Freundschaftsbezeigungen. Dilettantenaufdringlichkeiten. Stadtverordnetenversammlung. Dies sind keine Wörter, es sind Umzüge sämtlicher Buchstaben des Alphabets. Und sie kommen nicht etwa selten vor. Wo man auch immer eine deutsche Zeitung aufschlägt, kann man sie majestätisch über die Seite marschieren sehen […]: Generalstaatsverordnetenversammlung Altertums- wissenschaften Kinderbewahrungsanstalten Unab- hängigkeitserklärungen Wiederherstellungsbestre- bungen Waffenstillstandsunterhandlungen. Natürlich schmückt und adelt solch ein großartiges Wortgebirge die literarische Landschaft, wenn es sich quer über die Druckseite erstreckt, gleichzeitig jedoch bereitet es dem Anfänger großen Verdruss, denn es versperrt ihm den Weg. Er kann nicht da- runter herkriechen oder darüber hinwegklettern oder einen Tunnel hindurchbohren. Er wendet sich also hilfesuchend ans Wörterbuch, aber dort findet er keine Hilfe. Das Wörterbuch muss irgendwo eine Grenze ziehen, daher lässt es diese Sorte von Wör- tern aus, und zwar mit Recht, denn diese langen Dinger sind wohl kaum rechtmäßige Wörter, son- dern vielmehr Wortkombinationen, deren Erfinder man hätte umbringen sollen. Es sind zusammenge- setzte Wörter ohne Bindestrich. Die einzelnen Wör- ter, die zu ihrem Aufbau benutzt wurden, stehen im Wörterbuch, wenn auch recht verstreut. Man kann sich also das Material Stück um Stück zusammensu- chen und auf diese Weise schließlich auf die Bedeu- tung stoßen, aber es ist eine mühselige Plackerei. Also! Falls es mir nicht gelungen ist, zu beweisen, dass Deutsch eine schwierige Sprache ist – versucht habe ich es jedenfalls. Ich hörte von einem amerika- nischen Studenten, den jemand fragte, wie er mit seinem Deutsch vorwärtskomme, und der unver- züglich antwortete: „Überhaupt nicht. Drei volle Monate habe ich jetzt hart daran gearbeitet, und da- bei ist nichts weiter herausgekommen als eine einzi- ge deutsche Wendung: „Zwei Glas!“ Er hielt einen Augenblick lang inne und fügte dannmit Nachdruck hinzu: „Aber das sitzt!“ 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öb

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