Sprachräume 2, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

139 Sprachreflexion Literarische Bildung Textkompetenz DER „ARME HEINRICH“ UNGESCHMINKT – TANKRED DORST: „DIE LEGENDE VOM ARMEN HEINRICH“ Besonders im 20. Jahrhundert wuchs das Interesse an Hartmanns Text. Krankheit oder plötzliche Lebenskrisen als literarische Motive sind für die Dichtung unserer Zeit nichts Ungewöhnliches mehr. So bringt der deutsche Dramatiker Tankred Dorst in seinem 1996 erschienenen Drama „Die Legende vom Armen Heinrich“ Heinrich auf die Bühne „faulend, schon in Verwesung nur ein blutiges Bündel noch“ , ihm „fauln Händ und Füß ob, Finga hodd er scho kanne mehr droo und vo seine Ohrrn und vo seina Nosn aa nimmer viel“ . Das Mädchen, das Heinrich in Dorsts Text retten will, möchte eigentlich nur raus aus ihrem trostlosen Leben, in dem es nach Abwaschwasser und Armut riecht: „So a Frau wie mei Mudder ane is und wie die hom wolln, daß ich ane wern soll, so ane will ich ned wern.“ Die Rolle der sich Opfernden gefällt ihr, das ist ihre Aussicht auf einige Minuten Ruhm. Aber auch bei Dorst wird das opferungswillige Mädchen nicht getötet, Heinrich wird wie bei Hartmann von Aue in dem Augenblick durch ein Wunder wieder gesund , als das „Messer zischt“ und eine „rote Spur durchs Fleisch“ zu ziehen beginnt. DER „ARME HEINRICH“ VERÄNDERT EIN LEBEN – MARKUS WERNER: „BIS BALD“ In unserer Zeit ist die Redewendung „jemandem sein Herz schenken“ durch den medizinischen Fortschritt nicht mehr eine bloße Metapher, sondern reale Möglichkeit geworden. Genau mit diesem Motiv befasst sich der Schweizer Autor Markus Werner in seinem Roman „Bis bald“, aus dem Sie in der Folge Ausschnitte finden. Der Denkmalpfleger Lorenz Hatt liegt in seinem Krankenbett und erzählt einem Besucher die Geschichte seines Lebens mit seiner plötzlichen Katastrophe: Herzinfarkt. Es steht sehr schlecht um ihn: Ich habe […] von einer Versicherungsagentur die Un- terlagen für einen sogenannten Sterbevorsorgevertrag angefordert, und statt ihn einfach zu schicken, hat die Agentur einen Vertreter auf mich angesetzt, den ich mir nur mir großem Aufwand vom Halse schaffen konnte und der mich noch durch die schon fast geschlossene Tür hindurch mit einem günstigen Pauschalarrange- ment zu ködern suchte. Ich habe die Unterlagen in den Papierkorb getan und meinen Vorsatz, den Angehöri- gen die Scherereien abzunehmen, als Ausfluss eines fal- schen Pflichtgefühls erkannt und aufgegeben. Hingegen habe ich – zum erstenmal – ein Testament verfasst und Das Organ, das ich bekommen werde, wird einem jun- gen Menschen gehört haben, der seine Spendebereit- schaft zu Lebzeiten schriftlich bekundet hat oder des- sen nächste Angehörige der Entnahme zugestimmt haben. Über seine Identität werde ich keinerlei Aus- kunft erhalten. […] Die Vorschrift, so der Arzt, diene meinem psychischen Schutz und jenem der Angehöri- gen; groß und begreiflich sei die Versuchung des Emp- fängers, Nachforschungen über Leben und Persönlich- keit des Spenders anzustellen, um zu erfahren, wessen Herz in ihm, dem Empfänger, weiterschlage. Die Wahr- Ich habe mich aufs Bett gelegt und tief geschlafen, tief. Um drei Uhr mittags bin ich aufgestanden, mir ist so mild ums Herz gewesen, als stehe ein Frühling bevor. […] Ich habe eine Platte aufgelegt […] und mich in mei- mir bei dieser Tätigkeit – zum erstenmal – selbst ein paar Tränen nachgeweint, dies ist sehr angenehm ge- wesen. Doktor Kierling also ist von Mal zu Mal ernster und stiller geworden, und bei der vierten Konsultation, am zehnten Mai, hat mir Doktor Kierling in Anwesenheit von zwei weiteren Ärzten eröffnet, wie es mit meinem Herzen stand, nämlich so aussichtslos, dass nur noch die Verpflanzung bleibe. Ich habe nicht gezaudert, ich habe sofort zugestimmt, und seither rinnt der Sand vernehmlicher, gleichzeitig, welch ein Widersinn, ist mir, als sei der Fluss gestaut. scheinlichkeit, im Zuge dieser Nachforschungen mit den Angehörigen des Spenders, etwa mit seiner Frau oder seinen Eltern, in Berührung zu kommen, sei ebenfalls groß, man müsse sich die Gefühlsverwirrung der Hinterbliebenen vorstellen, wenn sie vor dem Menschen stünden, der mit dem Herzen des verstor- benen Ehemannes oder Sohnes lebe, und vor dieser Verwirrung und seelischen Überforderung gelte es die Angehörigen zu schützen. Mich aber bewahre die An- onymität des Spenders vor möglichen belastenden Entdeckungen. nen Sitzsack sinken lassen. […] Dann habe ich geraucht, ich bin gelöst gewesen, ich habe Doktor Kierling ange- rufen und ihn beauftragt, mich [von der Transplantati- onsliste] zu streichen. 2 4 6 8 10 12 2 4 6 8 10 2 4 14 16 18 20 22 24 12 14 16 18 20 6 8 Seine von ihm getrennt lebende Frau hat ihm Hartmanns „Armen Heinrich“ geschenkt. Zunächst weiß er nichts Rechtes mit ihm anzufangen. Doch mit dem Lesen des Textes erkennt er, dass er der „Arme Heinrich“ ist: Ich weiß jetzt immerhin, warum mir Regina das Buch geschenkt hat. Die Parallelen sind […] vorhanden. Und mit jedem Lesefortschritt in Hartmanns Text wird ihm bewusst, dass auch ein transplantiertes Herz das Herz eines „Opfers“ ist: Hatt ist, auch durch die Lektüre von Hartmanns Text, „weise“ geworden: Er verzichtet auf die Transplantation, will lernen, mit seinem eigenen Leben umzugehen. Hier die letzten Sätze des Romans: Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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