Sprachräume 2, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

SPRACHRAUM 11 Sprache und Texte aus Mittelalter und Moderne 138 Mündliche Kompetenz Literarische Bildung Textkompetenz 4. ETAPPE: DIE RETTUNG, DAS HAPPY END Der Arzt in Salerno wetzt das Messer, das Mädchen liegt nackt und festgebunden auf dem Tisch, Heinrich erblickt es durch ein Loch in der Wand. Angesichts ihrer Schönheit – ir lîp der was vil minneclich – lässt Heinrich von einer Sekunde auf die andere seinen Entschluss fallen und hindert den Arzt an der Tötung: „Ir sult diu maget lâzen leben“ . Beide fahren nach Hause, das Mädchen wütend und schimpfend, dass ihr nun die himelkrône genommen worden ist. Heinrich ist bereit, sein Schicksal anzunehmen. Da passiert das Wunder: Gott heilt Heinrich, weil dieser sein Schicksal akzeptiert hat. Mit der Heirat der beiden endet der Text. Der Gedanke, dass nur das äußerste Opfer, das des menschlichen Lebens, ein anderes menschliches Leben retten kann, wurzelt in magischen Vorstellungen. Antikes griechisches und jüdisch-christliches Denken versuchten diese alten Opferrituale zu verdrängen, indem sie zeigen, dass die Gottheit auf solche Menschenopfer verzichtet. Das Schreiben des Mittelalters verstehen Fassen Sie mündlich oder schriftlich den Inhalt des Armen Heinrich zusammen. Legen Sie einen Stichwortzettel zu den „Mittelalterkontexten“ an und halten Sie darüber ein Kurzreferat. Lesen Sie die Geschichte von Abraham und Isaak aus der Bibel und von Agamemnon und Iphigenie aus der griechischen Mythologie und fassen Sie die darin berichteten Begebenheiten mündlich zusammen. 11.4 a b c Der Mittelalterkontext: Das Problem der Handschriften Die Texte des Mittelalters sind in Handschriften überliefert; besonders beliebte Werke oft in sehr zahlreichen, voneinander nicht selten abweichenden, sogar an entscheidenden Stellen einander widersprechenden. Manche Handschriften stammen unmittelbar aus der Entstehungszeit der Werke, manche sind hingegen Jahrzehnte später geschrieben worden. Auch die Qualität (= Genauigkeit) der Schreiber ist sehr unterschiedlich; manche Schreiber „verbessern“ nach ihrem Gutdünken Wörter oder Verse, die sie nicht verstehen. Handschriften sind nicht selten unvollständig, an manchen Stellen schlecht lesbar. Die Wissenschafter bemühen sich in scharfsinniger Arbeit, solche Stellen mit Hilfe von „Konjekturen“ – begründeten Vermutungen – lesbar zu machen, wobei es manchmal zu erbitterten Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Vorschlägen kommt. Gelegentlich wird durch weitere Handschriftenfunde die eine oder andere umstrittene Konjektur bestätigt oder als falsch erwiesen. Der „Arme Heinrich“ ist schlecht überliefert, nur in drei vollständigen Handschriften und in drei Fragmenten. Die früheste Handschrift stammt aus dem Stift St. Florian in Oberösterreich, sie hat aber nur 61 von 1520 Versen, die außerdem zum Teil stark verstümmelt sind. „Der arme Heinrich“ im 20. Jahrhundert LANGE WENIG BEACHTET Über Jahrhunderte wurde Hartmanns „Armer Heinrich“ nur wenig beachtet. Grund war die von manchen als makaber empfundene Bedingung, einem anderen für dessen Gesundung das eigene Herz zu opfern. Der „Dichterfürst“ Goethe zum Beispiel urteilte hart: „Den Ekel gegen einen aussätzigen Herrn, für den sich das […] Mädchen aufopfert, wird man schwerlich los. Die […] schreckliche Krankheit wirkt […] so gewaltsam, dass ich mich beim bloßen Berühren eines solchen Buchs schon angesteckt glaube.“ So verursacht der „Arme Heinrich“, ein „an und für sich betrachtet höchst schätzenswertes Gedicht“, Goethe „körperlich-ästhetischen Schmerz“. Erst in der Zeit der Romantik im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, die sich für das Mittelalter begeisterte, fand der Text wieder große Wertschätzung. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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