Sprachräume 2, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

137 2. ETAPPE: HEINRICHS STURZ INS UNGLÜCK Inmitten seiner persönlichen und gesellschaftlichen Vollkommenheit befällt Heinrich plötzlich der Aussatz, die Lepra: ihn ergreif diu miselsuht . Sein Vergehen: Er hatte vergessen, dass Ansehen und Glück nur von Gott geschenkt waren, hochmütig hatte er geglaubt, nichts könne ihn aus seinem Wunschleben stürzen, tumber wân und übermuot hatten ihn verführt. Mit einprägsamen Metaphern schildert der Dichter den Zusammenbruch: Heinrich, nun zum „armen Heinrich“ geworden, fährt in die Zentren der damaligen medizinischen Wissenschaft, nach Montpellier und Salerno. Die Diagnose, die er dort bekommt, ist niederschmetternd: Nichts kann ihn heilen als das Herzblut eines Mädchens: mir wære niht anders guot, wan von ir herzen das bluot . Heinrich, von der Unmöglichkeit der Rettung überzeugt, zieht sich zurück auf einen abgelegenen Hof, der von einem seiner Bauern bewirtschaftet wird, der eine achtjährige Tochter hat. Nach einer anderen Handschrift, die den Text überliefert, ist das Mädchen zwölf Jahre alt. Der Mittelalter-Kontext: In allen Epen gerät der Held ins Unglück In allen höfischen Epen des Mittelalters stürzt der „Held“ plötzlich ins Unglück, sei es durch Hochmut wie im „Armen Heinrich“, durch Unwissenheit wie im „Parzival“ des Wolfram von Eschenbach, durch extreme Liebe wie in Gottfried von Straßburgs „Tristan“ oder durch Verletzung der elementaren höfischen Verhaltensregeln wie in Hartmanns „Erec“ und „Iwein“. Nie aber ist der Held ganz unschuldig. Die Verstrickung in ungeheure Schuld ist auch charakteristisch für die Heldenepen, wie das „Nibelungenlied“, entstanden um 1205. ze hewe wart sîn grüenez gras, […] sîn swimmendiu fröude ertranc, […] sîn honec wart ze gallen. ein swinde vinster donerslac zebrach im sînen mitten tac, ein trüebez wolken unde dic bedaht im sîner sunnen blic. Sein grünes Gras wurde zu Heu, seine schwimmende Freude ertrank, sein Honig wurde zur Galle, ein kurzer finstrer Donnerschlag zerbrach seinen Mittag, eine dunkle, dicke Wolke verdeckte ihm den Schein seiner Sonne. 2 4 6 8 10 12 14 3. ETAPPE: (UN)MÖGLICHE HILFE UND DIE VERSUCHE, DAS RICHTIGE WORT ZU FINDEN Zwei Stellen im „Armen Heinrich“ berichten, wie das Mädchen – diu maget – sein soll, dessen Herzblut Heinrich retten kann. Doch die mittelalterlichen Handschriften überliefern jeweils ein anderes Adjektiv. Eine Handschrift überliefert erbære – edel – und manbære – im heiratsfähigen Alter –, in einer anderen Handschrift steht das Wort vrîebære , dessen Bedeutung den Wissenschaftlern ein Rätsel aufgibt, das sie auf verschiedene Weise zu lösen versuchen. Ein Forscher meint, es handle sich um ein verschriebenes vrîbære (freiwillig), ein anderer bevorzugt die Lesart vrambære (sittlich rein), einer meint, man solle hîbære (heiratsfähig) einsetzen, einer fordert, man müsse sich für verbære (rechtlich handlungsfähig) entscheiden. Drei Jahre verbringt Heinrich in der Abgeschiedenheit, manchmal besucht von seinem Bauern und dessen Tochter. Einmal erzählt Heinrich auf deren Drängen, dass seine Krankheit eben nur auf eine einzige Weise geheilt werden könne. Voll Begeisterung bietet sich das Mädchen als Opfer an. In einer Mischung von „rationalen“ Argumenten – wäre Herr Heinrich tot, gäbe es im Bauernhaus Armut und Not – und religiöser Begeisterung – das Mädchen will seine noch reine Seele vor dem Zugriff der Sünde bewahren, die im Leben unvermeidlich auf sie zukommt, – überzeugt sie die Eltern nach langer Diskussion von ihrem Entschluss. Heinrich sträubt sich anfangs, das Opfer anzunehmen, willigt dann aber ein, und sie fahren nach Salerno im Süden Italiens, einem Zentrum der Heilkunst, wo das Mädchen geopfert werden soll. Textkompetenz Literarische Bildung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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