Sprachräume 2, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

SPRACHRAUM 10 Die Dramatik 128 Textkompetenz Literarische Bildung Schriftliche Kompetenz Zeigen Sie, an welchen Stellen die Verfasserin die Vorwürfe an den Eislaufverein steigert. Welche Forderungen werden an die Verantwortlichen des Vereines gestellt? Welche Argumente werden angeführt, dass schon gegen solche „Späße“ eingeschritten werden muss? Welche Stilmittel werden verwendet, bleibt die Verfasserin grundlegend sachlich im Ton? Sehr geehrte Damen und Herren des […] Eislaufvereins! Ich bin eine begeisterte Eisläuferin – deshalb gehe ich auch öfter auf Ihren schönen Eislaufplatz und möchte auch in Zukunft gerne dort eislaufen. Doch was ich unlängst zufällig im „Rassismus Report“ von ZARA gelesen habe, lässt meinen Plan, weiter bei Ihnen eiszulaufen, ins Wanken geraten. Ich will nicht mit Jugendlichen auf demselben Platz eislaufen, die Nazi-Parolen brüllen, mit dem Hitlergruß provozieren und, das ist genauso schlimm, das auch tun können. Denn laut ZARA hat niemand offen reagiert, ist niemand eingeschritten, hat niemand die jungen Leute zur Rede gestellt. Klar, es ist für den einzelnen nicht leicht, Zivilcourage zu zeigen, noch dazu, wo es um eine ganze Gruppe von Schreiern ging. Aber Sie als die Verantwortlichen des Eislaufvereins hätten einschreiten, die Schreier zumindest zum Schweigen oder ihnen eigentlich die rote Karte zeigen und sie zum Verlassen des Platzes auffordern müssen. Denn dass Sie nichts mitbekommen hätten, ist unmöglich, der Vorfall war ja für alle sicht- und hörbar. Den Kopf in den Sand (ins Eis?) stecken, das gilt nicht. Besonders bedenklich ist aber noch etwas anderes: Die Jugendlichen haben Jacken Ihres Eislaufvereins getragen. Ich will nicht hoffen und will oder kann es mir eigentlich nicht vorstellen, dass Sie in Ihrem Verein solch nazistisches Gegröle und solche nazistischen Gesten zulassen. Auf alle Fälle ist Ihnen große bzw. größere Aufmerksamkeit und Sorge zu empfehlen, was mögliche nazistische, rassistische und mit unseren Gesetzen nicht vereinbare Umtriebe anlangt. Denn was vielleicht nur als provokanter „Spaß“ gedacht war, kann sich sehr leicht in den Köpfen festsetzen und den „Spaß“ zum Ernst werden lassen: gegenüber Flüchtlingen, Farbigen, Menschen mit Behinderung, Kopftuchträgerinnen, Alten … „Wehret den Anfängen!“ ist ein alter, aber nicht veralteter Spruch. Dass Sie auf das Ersuchen von ZARA, Stellung zu nehmen, nicht einmal geantwortet, sondern eine Mauer des Schweigens errichtet haben, das schlägt für mich dem Fass den Boden aus. Vielleicht können Sie Ihre Stellungnahme nachholen und auf meinen offenen Brief antworten. Hoffen tu ich das jedenfalls. Mit freundlichen Grüßen …… DER BERÜHMTESTE OFFENE BRIEF DER GESCHICHTE „J‘accuse“ – „Ich klage an“ – so lautet der Titel des wohl berühmtesten jemals geschriebenen offenen Briefes. Gerichtet wurde er an den damaligen französischen Präsidenten Félix Faure, verfasst hat ihn der Autor Emile Zola, erschienen ist der offene Brief am 13. Jänner 1898 in der Pariser Tageszeitung „L’ Aurore“ als „Lettre à M. Félix Faure, Président de la République“ . Die erste Zeile lautet „Monsieur le Président, Me permettez vous …“ – „Herr Präsident, erlauben Sie mir …“. Drei Jahre zuvor war der französische Hauptmann Alfred Dreyfus wegen angeblicher Spionage zugunsten des Deutschen Reichs zu lebenslanger Haft auf einer Sträflingsinsel verurteilt worden. Die „Beweismittel“ gegen Dreyfus stellten sich als gefälscht heraus, dennoch hielt die breite Öffentlichkeit, beeinflusst durch antisemitische Kreise, an der Schuld von Dreyfus, der Jude war, fest. Dreyfus blieb verbannt. Erst Zolas offener Brief gab der so genannten Dreyfus- Affäre eine entscheidende Wende. Mit einem siebenfach wiederholten „J’accuse“ schließt Zola seine Analyse eines ungerechten, weil auf Fälschungen und Unterdrückung der Dreyfus entlastenden Beweismittel beruhenden Prozesses und fordert dessen Rehabilitierung. Der Fälscher wurde schließlich entlarvt – allerdings nie verurteilt –, Dreyfus wurde – nach Jahren – voll und ganz rehabilitiert. ANLASS, ADRESSATEN UND ABSICHT EINES OFFENEN BRIEFES Aus Zolas offenem Brief lassen sich wesentliche Charakteristika ableiten. Offene Briefe üben Kritik an politischen oder gesellschaftlichen Ereignissen und Zuständen. Seltener wird in einem offenen Brief Zustimmung für bestimmte Handlungen geäußert. Offene Briefe haben doppelte Adressaten. Einerseits richten sie sich an konkrete Empfänger, meist Verantwortliche für bestimmte Bereiche der Politik und Gesellschaft. Dies können Einzelpersonen sein oder auch bestimmte Institutionen, wie der SGA Ihrer Schule, der Nationalrat, der Landtag, die Gemeinde, aber auch Handelsketten oder bestimmte Firmen. Die zweite Adresse ist die eines Mediums, meist einer Zeitung, an die der offene Brief mit der Bitte um Veröffentlichung tatsächlich geschickt wird. So richtet sich der offene Brief scheinbar an eine Einzelperson, wendet sich aber in Wahrheit an einen wesentlich größeren Leserkreis. Die Absicht der Verfasser/ Verfasserinnen ist es, mit der Veröffentlichung des Briefes ein wichtiges Thema in den Blickpunkt zu rücken, eine Diskussion in Gang zu setzen und die Adressaten zum Handeln aufzufordern. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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