Sprachräume 2, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

SPRACHRAUM 10 Die Dramatik 122 Die konsequente Kämpferin – Jean Anouilh: „Antigone“ DAS THEMA Die Zeit der Handlung: das antike Griechenland. Der Ort der Handlung: die Stadt Theben. Der Hintergrund der Handlung: der Fluch, der auf dem Geschlecht des Ödipus lastet. Bekanntlich hatte Ödipus unwissentlich seinen Vater erschlagen und mit seiner Mutter vier Kinder gezeugt: die Söhne Eteokles und Polyneikes und die Töchter Ismene und Antigone. Nach Ödipus’ Tod streiten die Brüder um die Herrschaft in Theben. Eteokles kann Polyneikes aus Theben vertreiben. Der kehrt zurück, es kommt zum Kampf zwischen beiden. Eteokles und Polyneikes töten einander. Nun übernimmt Ödipus’ Schwager Kreon die Herrschaft. Er verweigert Polyneikes das Begräbnis, denn schließlich hat er Theben und seinen Herrscher angegriffen. Kreon will mit dieser drastischen Maßnahme den Staat Theben nach vielen Jahren der politischen Wirren stabilisieren und jeden warnen, der die Macht des Herrschers und die Ordnung des Staates angreift. All jenen, die Polyneikes bestatten wollen, droht Kreon mit der Todesstrafe. Doch die Verweigerung der Bestattung ist ein Frevel gegen das göttliche Gesetz. Zumindest sieht das Antigone so. Sie widersetzt sich, wirft als Bestattungsritual Erde auf Polyneikes … SEIT 2500 JAHREN EIN STOFF DER WELTLITERATUR Handeln und Schicksal Antigones faszinieren seit 2500 Jahren die Literatur. Der griechische Dramatiker Sophokles gestaltet in seiner Tragödie „Antigone“, geschrieben 441/440 v. Chr., als Erster ihr Schicksal literarisch. Sein „Dichter- kollege“ Euripides folgt ihm, der Stoff findet Eingang in die römische Literatur und in die Literatur von Renaissance und Barock. Die Klassiker, wie Friedrich Hölderlin, übersetzen und interpretieren Sophokles’ Drama neu. Auch viele Autoren und Autorinnen des 20. Jahrhunderts nehmen den Stoff wieder auf. 1944 wurde in dem von den Deutschen besetzten Paris die „Antigone“ des französischen Autors Jean Anouilh (1910 – 87) aufgeführt. Ihr Erfolg war riesig. Die Franzosen begriffen das Stück als Auflehnung eines Einzelnen gegen die Besatzungsmacht. Zu den wichtigen Gestaltungen im 20. Jahrhundert zählen weiters Bertolt Brechts Drama „Die Antigone des Sophokles“ (1947), die Kurzgeschichte „Die getreue Antigone“ (1947) von Elisabeth Langgässer (1947) und die Erzählung „Die Berliner Antigone“ von Rolf Hochhuth (1963). Alle stellen die Auflehnung gegen ungerechte Herrschaft in den Mittelpunkt. DIE PERSONEN Zu Beginn von Anouilhs Stück stellt ein Sprecher die Personen des Dramas vor: Textkompetenz Literarische Bildung Maturatextsorte: Zusammenfassung Die Dramatik – und der offene Brief Eine der berühmtesten dramatischen Frauenfiguren, die seit 2500 Jahren die Autorinnen und Autoren bewegt, wird Ihnen in diesem Kapitel vorgestellt: Antigone. Gleichzeitig erhalten Sie Hinweise, wie man Dramenszenen gut beschreiben kann und einen offenen Brief verfasst. k3yz5f SPRACHRAUM 10 SPRECHER: So ... […] Antigone ist die kleine Magere, die da drüben sitzt und schweigt. Starr blickt sie vor sich hin und denkt. Sie denkt, dass sie nun gleich An- tigone sein wird, dass sie plötzlich nicht mehr das schmächtige, schwarze, verschlossene Mädchen ist, das keiner in der Familie ernst nimmt, sondern dass sie sich allein gegen die Welt stellen wird und gegen Kre- on, ihren Onkel, der König ist. Sie denkt daran, dass sie sterben muss und – weil sie ja noch so jung ist – dass auch sie gerne noch leben möchte. Aber man kann ihr nicht helfen. Sie heißt Antigone und muss ihre Rolle durchhalten bis zum Ende. […] Sie löst sich von uns allen, die wir heute Abend nicht zu sterben brauchen und ihr ruhig zusehen können. […] Der junge Mann da […] ist Hämon, Kreons Sohn, der Verlobte Antigo- nes. 2 4 6 8 10 12 14 16 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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