Sprachräume 2, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

SPRACHRAUM 9 Die Lyrik – und die Empfehlung 108 Textkompetenz Literarische Bildung DER DICHTER LIEST SEIN GEDICHT UND IST BETROFFEN Knapp ein halbes Jahr vor seinem Tod, im August 1831, besucht der nun 80-jährige Goethe die Berghütte ein letztes Mal, auch um zu schauen, ob sein Gedicht an der Holzwand noch zu lesen sei. Einer seiner Begleiter, der für die Finanzen Weimars zuständige Beamte Mahr, berichtet: Goethe überlas diese wenigen Verse, und Tränen flossen über seine Wangen. Ganz langsam zog er sein Taschentuch aus seinem Tuchrock, trocknete sich die Tränen und sprach in sanftem, wehmütigem Ton: Ja: warte nur, balde ruhest du auch! schwieg eine halbe Minute, sah nochmals durch das Fenster in den düsteren Fichtenwald und wendete sich darauf zu mir mit den Worten: Nun wollen wir wieder gehen! Goethe selbst notiert diesen Besuch in sein Tagebuch: 27. August (1831). Ilmenau. Ganz heiterer Himmel wie selten in diesem Sommer. […] Früh halb 5 Uhr aufgestanden. Mit den Kindern gefrühstückt. Sodann Rentamtmann Mahr. Friedrich [ein Bediensteter] ging mit den Kindern durch die Gebirge auf den Kickelhahn. Ich fuhr mit Herrn Mahr auch dahin. Die alte Inschrift ward rekognosziert: Über allen Gipfeln ist Ruh […]. Den 7. September 1783. WESHALB IST „EIN GLEICHES“ EINES DER BERÜHMTESTEN DEUTSCHEN GEDICHTE? Ist die Berühmtheit dieses Gedichts inzwischen ein bloßer „Selbstläufer“, weil es „immer schon“ berühmt war und weil das Markenzeichen „Goethe“ darauf „klebt“? Ohne Zweifel kann die Bekanntheit eines Textes oft durch die Bedeutung des Autors/der Autorin gefördert werden und dadurch in den Kanon – die Sammlung der Werke, die „man“ kennen sollte –, Eingang finden. Allerdings wäre das nur ein Teil einer möglichen Erklärung. Denn sonst könnte ja auch das folgende Goethe-Gedicht besonders berühmt sein: Dieses Gedicht befasst sich mit dem Leben, es sagt aus, wie vielfältig die Welt ist und dass viel „Saures“ dabei ist und doch alles als Ganzes „genossen“ werden muss, auch, wenn es manchmal wie ein undurchdringlicher Brei ausschaut, den man früher dem „Gesinde“, den Bediensteten, vorsetzte. Trotzdem ist dieses Gedicht kaum bekannt, auffindbar ist es im Band „Goethes schlechteste Gedichte“. Im Gegensatz dazu steht „Ein Gleiches“. Es ist vermutlich die Vielfalt der vom Gedicht hervorgerufenen Lese- und Deutungsmöglichkeiten, welche seine Qualität ausmachen: von der Deutung als Beschreibung eines friedlichen Waldabends über die Lesemöglichkeit als Ermunterung für einen aufsteigenden Wanderer, die Einbettung des menschlichen Lebens in den Kosmos oder die Deutungsmöglichkeit als Nachdenken über das nahende Ende. Genauso wichtig für ein gelungenes Gedicht ist die Übereinstimmung von Form und Inhalt, ohne dass man sie immer sofort merkt: So drücken die gleichmäßigen Wechsel zwischen Hebung und Senkung in den ersten vier Strophen die Ruhe der Natur aus, die unregelmäßigen Rhythmen der letzten Zeilen die Unruhe des Menschen. Die Übersetzungsversuche zeigen die Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten Wie komplex der Inhalt und die Verbindung des Inhalts mit der Form des Gedichts sind, zeigen auch die vielen, sehr unterschiedlichen Übersetzungsversuche. Hier eine Auswahl von Übertragungen ins britische und amerikanische Englisch: Texte vergleichen und ihre Intentionen erfassen Fassen Sie die Berichte zusammen, die Mahr und Goethe von ihrem gemeinsamen Besuch des Kickelhahns geben, und versuchen Sie die inhaltlichen Unterschiede zu begründen! 9.2 Die Welt ist ein Sardellensalat; er schmeckt uns früh, er schmeckt uns spat. Zitronenscheiben ringsumher, dann Fischlein, Würstlein, und was noch mehr in Essig und Öl zusammengerinnt, man schluckt sie zusammen wie ein Gesind. 2 4 6 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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