Sprachräume 2, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

Sprachraum 8 Die Epik 104 Textkompetenz Literarische Bildung Schriftliche Kompetenz Kompetenztest 8 Hauptkompetenz und Teilkompetenz Literarische Bildung: Textsorten und ihre strukturellen Merkmale erkennen und hinsichtlich ihrer Inhalte beschreiben und erörtern Weitere geforderte Kompetenzen Textkompetenz, Schriftliche Kompetenz Methodisch-didaktische Hinweise Alle Teile auch als Partner- oder Gruppenarbeit möglich Hilfsmittel Keine Zeitbedarf Teil 1a: 30 Minuten; Teil 1b: 50 Minuten; Teil 1c: 20 Minuten, Teil 1d: 40 Minuten Teil 2a: 30 Minuten; Teil 2b: 40 Minuten Michaela Seul: Allmorgendlich Jeden Morgen sah ich sie. Ich glaube, sie fiel mir gleich bei der ersten Fahrt auf. Ich hatte meinen Ar- beitsplatz gewechselt und fuhr vom Ersten des Mo- nats an mit dem Bus um 8:11 Uhr. Es war Winter. Jeden Morgen trug sie den kirschro- tenMantel, weiße, pelzbesetzte Stiefel, weiße Hand- schuhe, und ihr langes, dunkelbraunes, glattes Haar war zu einem ungewöhnlichen, aber langweiligen Knoten aufgesteckt. Jeden Morgen stieg sie um 8:15 Uhr zu und ging mit hoch erhobenem Kopf auf ih- ren Stammplatz, vorletzte Reihe rechts, zu. Das Wort mürrisch passte gut zu ihr. Sie war mir sofort unsympathisch. So geht es mir oft: Ich sehe fremde Menschen, wechsle kein Wort mit ihnen und fühle Ablehnung und Ärger bei ihrem bloßen Anblick. Ich wusste nicht, was mich an ihr so störte, denn ich fand sie nicht schön: Es war also kein Neid. Sie stieg zu, setzte sich auf ihren seltsamerweise im- mer freien Platz, holte die Zeitung aus ihrer schwar- zen Tasche und begann zu lesen. Jeden Morgen ab Seite drei. Nach der dritten Station griff sie erneut in die Tasche und holte – ohne den Blick von der Zeitung zu wenden – zwei belegte Brote hervor. Einmal mit Salami und einmal mit Mettwurst. Le- send aß sie. Sie schmatzte nicht, und trotzdem er- füllte mich ihr essender Anblick mit Ekel. Die Brote waren in einem Klarsichtbeutel aufbe- wahrt, und ich fragte mich oft, ob sie täglich einen neuen Beutel benutzte oder denselben mehrmals verwendete. Ich beobachtete sie ungefähr zwei Wochen, als sie mir gegenüber das erste Mal ihre mürrische Gleich- gültigkeit aufgab. Sie musterte mich prüfend. Ich wich ihr nicht aus. Unsere Feindschaft war besiegelt. Am nächsten Morgen setzte ich mich auf ihren Stammplatz. Sie ließ sie nichts anmerken, begann wie immer zu lesen. Die Stullen packte sie aller- dings erst nach der sechsten Station aus. KT 1 Jeden Morgen vergrämte sie mir den Tag: Gierig starrte ich zu ihr hinüber, saugte jede ihrer mich persönlich beleidigenden, sich Tag für Tag wieder- holenden Hantierungen auf, ärgerte mich, weil ich vor ihr aussteigen musste und sie in den Vorteil der Kenntnis meines Arbeitsplatzes brachte. Erst, als sie einige Tage nicht im Bus saß und mich dies beunruhigte, erkannte ich die Notwendigkeit des allmorgendlichen Übels. Ich war erleichtert, als sie wieder erschien, ärgerte mich doppelt über sie, den Haarknoten, der ungewöhnlich und trotzdem langweilig war, den kirschroten Mantel, das gries- grämige Gesicht, die Salami, die Mettwurst und die Zeitung. Es kam so weit, dass sie mir nicht nur während der Busfahrten gegenwärtig war, ich nahm sie mit nach Hause, erzählte meinen Bekannten von ihrem un- mäßigen Schmatzen, dem Körpergeruch, der groß- porigen Haut, dem abstoßenden Gesicht. Herrlich war es mir, mich in meine Wut hineinzusteigern; ich fand immer neue Gründe, warum ihre bloße Gegenwart mich belästigte. Wurde ich belächelt, beschrieb ich ihre knarzende Stimme, die ich nie gehört hatte, ärgerte mich, weil sie die primitivste Boulevardzeitung las und so fort. Man riet mir, einen Bus früher, also um 8.01 Uhr zu fahren, doch das hätte zehn Minuten weniger Schlafen bedeutet. Sie würde mich nicht um mei- nen wohlverdienten Schlaf bringen! Vorgestern übernachtete meine Freundin Beate bei mir. Zu- sammen gingen wir zum Bus. SIE stieg wie immer um 8.15 Uhr zu und setzte sich auf ihren Platz. Beate, der ich nicht von IHR erzählt hatte, lachte plötzlich, zupfte mich am Ärmel und flüsterte: „Schau mal, die mit dem roten Mantel, die jetzt das Brot isst, also ich kann mir nicht helfen, aber die erinnert mich unheimlich an dich. Wie sie isst und sitzt und wie sie schaut.“ 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 Bestimmen Sie die epische Textsorte genau, und begründen Sie Ihre Entscheidung. Deuten Sie den Titel des Textes. Bestimmen Sie Erzählzeit, Erzählperspektive und den Ort des Geschehens. Erzählt wird der Text offensichtlich von einer Frau; belegen Sie dies mit einem Textzitat. Gliedern Sie für sich den Text in 6 bis 8 Abschnitte, und fassen Sie den Inhalt dieser Abschnitte jeweils in ein oder zwei Sätzen zusammen. a Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verlags öbv

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