Sprachräume 1, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

99 „Ik gihorta dat seggen, dat sie urhettun ænon muotin, Hiltibrant enti Hadubrant untar heriun tuem …“. „Man hat mir erzählt, dass sie die gleiche tapfere Gesinnung hatten, Hildebrand und Hadubrant, zwischen den beiden Heeren“ – so beginnt das „Hildebrandslied“, das erste dichterische Dokument der deutschen Literatur. „Uns ist in alten maeren wunders vil geseit / von heleden lobebaeren, von grozer arebeit.“ „In den alten Geschichten wird uns viel Wunderbares erzählt, von rühmenswerten Helden und von großer Mühsal.“ So lauten die ersten Zeilen des „Nibelungenliedes“, des großen Heldenepos der hochmittelalterlichen deutschen Dichtung. „In einem bei Jena gelegenen Dorf, erzählte mir, auf einer Reise nach Frankfurt, der Gastwirt, dass sich mehrere Stunden nach der Schlacht …“ – so beginnt einer der berühmtesten Erzähler der deutschen Literatur, Heinrich von Kleist, seine „Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege“. Wie und was man erzählen kann: die Formen der Epik Um die vielen Möglichkeiten des Erzählens zu ordnen, teilt die Literaturwissenschaft die epischen Werke in verschiedene Formen (Genres) ein. Sie finden in der Folge wichtige Genres mit Textbeispielen. DAS MÄRCHEN Das Märchen ist meist die erste epische Gattung, der wir zuhörend oder lesend begegnen. Das Wort „Maere“ bedeutet ursprünglich „Bericht“. Ein Märchen war also zunächst eine mündlich überbrachte Neuigkeit. Manche Erzähler schmückten ihren Bericht so aus, dass der Begriff „Maere“ die ursprüngliche Bedeutung verlor und schließlich nur noch „erdichtete“ Erzählungen bezeichnete. Märchen führen in eine Welt, die zwischen real und irreal nicht unterscheidet. Märchen sind allerdings alles andere als naiv, sie sind nicht selten „revolutionär“: Die böse Hexe wird verbrannt, die von den Eltern ausgesetzten Kinder werden reich, der schlimme Zwerg reißt sich selbst entzwei. Märchen sind gekennzeichnet durch folgende Elemente: ƒƒ Dreizahl: drei Wünsche, Aufgaben, oft auch drei Hauptpersonen. ƒƒ Isolation: meist müssen Held oder Heldin in der Isolation ihre Prüfung bestehen: z. B. die Eltern sind tot oder haben das Kind verstoßen, Held/Heldin stehen ganz allein. ƒƒ Extreme Zeichnung sowohl der Personen (ganz gut und schön oder abgrundtief böse und hässlich) als auch der Situationen (so arm, dass sie nichts mehr zu essen haben, oder unvorstellbare Reichtümer). ƒƒ Sympathie für die „Letzten“, Schwächsten. ƒƒ Das gute Ende: Bestrafung der Bösen, Belohnung der Mutigen, Erfüllung der Sehnsucht nach Liebe oder Gerechtigkeit, Wiedererlangung der menschlichen Gestalt nach Verwandlungen, die von bösen Kräften verursacht worden waren. Textkompetenz Literarische Bildung Formen der Epik Die epischen Texte kann man in Kurzformen und Langformen einteilen. Zu den Kurzformen zählen zum Beispiel Märchen , Sagen , Fabeln , in denen Tiere den Lesern einen Spiegel der menschlichen Schwächen vorhalten, oder Anekdoten , die typische „Momentaufnahmen“ aus dem Leben von oft berühmten Menschen bieten. Die jüngste epische Kurzform ist die Kurzgeschichte . Sie zeigt „Helden“ aus dem Alltag, verzichtet auf Erläuterungen und Erklärungen und hat einen „offenen“ Schluss, der die Leserinnen und Leser nachdenklich machen soll. Zu den Langformen gehören Epos , Roman und Novelle . Das Epos ist, zeitlich gesehen, die erste epische Form. Epen wurden lange Zeit mündlich weitergegeben, zur besseren Merkbarkeit für die Erzähler sind sie in Versen verfasst. Sie berichten von großen Helden und ihren Taten. Der Roman , in Prosa geschrieben, stellt Schicksale und Erfahrungen einzelner Personen dar. Novellen schildern besondere Wendepunkte im Leben eines Menschen. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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