Sprachräume 1, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

SPRACHRAUM 9 Die Epik 98 Berichten ist noch nicht erzählen Kehren wir zu Caesar zurück. Nehmen wir an, er habe von der Schlacht berichtet. Bestimmt hat er nicht nur erzählt, er sei zum Schlachtort geritten, habe die Kämpfe kommandiert und dann sei der Feind geschlagen gewesen. Im Gegenteil, Caesar wird erzählt haben von heftigen Angriffen, von Rückschlägen, unerwarteten Attacken, vom Eingreifen der Elitesoldaten und vom endgültigen Sieg seiner Truppen. Denn jede Erzählung braucht Elemente, welche die Handlung bremsen und Erwartung, Ungewissheit und Spannung aufbauen. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ein Mann geht mit seinem Sohn auf einen Berg. Da die letzten 200 Höhenmeter bis zum Gipfel besonders schwierig sind, lässt er seinen Sohn auf einer Felsschulter zurück. Der Bub soll dort auf ihn warten. Doch der Vater stürzt ab. Am nächsten Tag – der Bub hat die Nacht in der Hoffnung verbracht, sein Vater werde doch noch kommen – erfährt der Sohn durch Bergrettungsleute, dass man seinen Vater tot am Fuß der Gipfelwand gefunden habe. Wie könnte ein Erzähler mit einem solchen Ereignis umgehen? Er könnte etwa den Vater auf dem Weg zum Gipfel noch einmal umkehren lassen, weil er dem Buben mitteilen will, wie der sich zu verhalten habe, da plötzlich Nebel eingefallen ist und der Vater seinen Feldstecher auf der Felsschulter vergessen hat. Somit hätte der Autor das Geschehen gebremst. Die Zuhörer/Zuhörerinnen (Leser/Leserinnen) können hoffen, dass der Vater seinen Gipfelanstieg abbricht. Eine weitere Möglichkeit für einen Erzähler bestünde darin, dass der Bub – nach längerem Warten schon etwas ungeduldig – sich erinnert, dass ihm der Vater erzählt habe, es gäbe noch einen anderen Abstieg vom Gipfel, den er schon lange hätte gehen wollen. Wiederum ergäbe sich ein Moment der Ungewissheit und Spannung. Mit der Freude am Erzählen beginnt die Literatur Bestimmt erzählen auch Sie manchmal gerne etwas, zumindest mündlich. Das Erzählen – „Hast du schon gehört, dass der/die …“ – steht auch am Beginn der Literatur. Bis in unsere heutige Zeit ist, quantitativ gesehen, Literatur vor allem Erzähltes: Romane, Erzählungen, Novellen, Kurzgeschichten, Reisebeschreibungen …, nicht zu vergessen Sagen und Märchen. Die folgenden Beispiele zeigen Ihnen einige berühmte Erzählanfänge der Literatur: „Andra moi enepe mousa …“„Muse, erzähl mir vom wendigen Mann, der die heilige Feste Trojas zerstörte.“ Das ist der Anfang von Homers „Odyssee“, einem der ältesten und folgenreichsten Mythen der Menschheit. Sie ist – zusammen mit der „Ilias“ – der erste Erzähltext der abendländischen Literatur. Literarische Bildung Schriftliche Kompetenz Maturatextsorte: Zusammenfassung Elemente des Erzählens erkennen Denken Sie sich weitere mögliche Spannungs- und Ungewissheitselemente zum erwähnten Thema „Vater –Sohn–Berg“ aus und halten Sie diese schriftlich fest! Erfinden Sie spannende Handlungselemente, Spannungsaufbau und Spannungslösung für eine Erzählung zu folgendem Thema: Ein Mann und eine Frau rudern vor einer Insel. Ein Sturm kommt auf. Das Boot kentert. 9.1 a b Die Epik „Veni, vidi, vici“ – „Ich kam, sah und siegte!“, rief Caesar im Jahr 47 v. Chr. nach einem Sieg in der Schlacht aus. Was aber hat dieser Satz mit der Epik zu tun? „Veni, vidi, vici“ ist nicht nur ein bekanntes Zitat, sondern wäre auch ein guter Erzählstoff. Denn einer Erzählung liegt immer ein bestimmtes Ereignis zugrunde. Wie und was man erzählen kann, darüber informiert Sie dieses Kapitel. p75v6m SPRACHRAUM 9 Nur zu Prüfzw cken – Eigentum des Verlags öbv

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