Sprachräume 1, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

7 Und warum •ndet eine, die arbeitet, einkau–, Kinder aufzieht, drei Männer liebt, nächste Woche umzieht, Zeit zum Lesen und jener keusche, unverheiratete Rentner nicht? Die Zeit zum Lesen ist immer gestohle- ne Zeit. […] Wenn man die Liebe unter dem Gesichts- Manchmal, ein herrlicher Augenblick, bist du in ein Buch so vertie–, dass du in ihm versinkst – du bist gar nicht mehr da, Herz und Lunge arbeiten, dein Körper verrichtet gleichmäßig seine innere Arbeit – du fühlst punkt unserer Zeiteinteilung sehen würde, wer würde sich daran wagen? Aber hat man jemals einen Verlieb- ten gesehen, der sich nicht die Zeit genommen hätte zu lieben? ihn nicht. Du fühlst dich nicht. Nichts weißt du von der Welt um dich herum, hörst nichts, siehst nichts, du bist im Banne eines Buches. 2 4 2 4 6 8 6 Einladung eins URSULA POZNANSKI: „EREBOS“ „Wahnsinnig cool, ehrlich.“ Nick Dunmore ist 16, lebt in London, trägt als Tattoo einen Raben im Nacken. Geheimnisvolle Päckchen zirkulieren an seiner Schule. Diejenigen, die sie erhalten, verraten deren Inhalt nicht, sie wirken aber verändert, müde, unkonzentriert, schwänzen die Schule. Und dann bekommt auch Nick von einer Mitschülerin ein solches Päckchen mit dem Versprechen zugesteckt, das Ding sei „wahnsinnig cool, ehrlich“, und der Aufforderung, absolutes Stillschweigen zu bewahren. Der Inhalt: eine DVD mit einem Computerspiel. Es trägt den Namen „Erebos“; so heißt der griechische Gott der Finsternis. Nick greift zu, ist fasziniert, kämpft als „Sarius“ gegen Monster aller Art. Immer wieder trifft er im Spiel auf den „Boten“, der die Quests – die Aufträge – verteilt. Diese Spiele-Quests sind oft mit Aufträgen in der realen Welt verbunden. So etwa müssen Menschen beschattet und fotografiert werden, bestimmte Leute müssen mit Anrufen belästigt, Objekte besprayt werden. Werden die Aufträge nicht erfüllt, so kann man „Erebos“ nicht mehr starten, ebenso wenig ist ein Neustart möglich, wenn die Figur stirbt. Nick ist zwar verunsichert darüber, dass der „Bote“ Persönliches über ihn weiß, doch die Faszination, weiterzuspielen, um in ein immer höheres Level und in den „Inneren Kreis“ zu kommen, der dann als „Spielziel“ den Turm von „Ortolan“ zerstören soll, ist groß. Bis Nick einen Auftrag bekommt, dessen Ausführung ihn in Probleme und Zweifel stürzt. Dieser Auftrag hängt zusammen mit Mr. Watson, Nicks Englischlehrer … Und da ist auch noch Emily, die „Erebos“ nicht spielt, aber in die Nick verliebt ist. Und wer oder was ist eigentlich „Ortolan“, der in seinem Turm getötet werden soll? Und wo liegen die Grenzen zwischen Spiel und Realität? Nick denkt und forscht nach; da begibt sich Unerwartetes. Und da ist noch Nicks bester Freund Jamie. Der hält gar nichts von Erebos und will das Spiel von Anfang an auffliegen lassen und zumindest Nick zum Ausstiegen bewegen. Doch die letzte Aussprache zwischen Nick und Jamie endet im Streit: „ICH WEISS NOCH NICHT, OB ICH ZEIT HABE, AM SONNTAG ZU EUCH ZU KOMMEN!“ Oft begründet man die Ablehnung einer Einladung mit der fehlenden Zeit. Zeit haben wir ja alle wenig – oder glauben dies zumindest. Aber sollten wir uns nicht manchmal einfach Zeit nehmen? Dazu Pennac: Vielleicht finden Sie die Zeit, eines der präsentierten Bücher – oder ein anderes – zu lesen! Allerdings: Bevor man eine Einladung, insbesondere bei „neuen Leuten“, annimmt, informiert man sich auch über das „Wann“ und „Wo“, wer und was zu erwarten ist. Solche Informationen bekommen Sie auch hier: Romanauszüge, Leserreaktionen, Buchkritiken können Ihnen die Annahme (oder Ablehnung) der Leseeinladung erleichtern. Es gibt keine geforderten Werkanalysen, keine Hausübungen, nur die Einladung zu lesen. Ob Sie allein, zu zweit, in der Gruppe sich einer der Einladungen widmen, auch das bleibt Ihnen überlassen. FÜHLEN SIE SICH IM BUCH WIE ZU HAUSE! Gastgeber meinen zu den Eingeladenen oft: „Fühlen Sie sich wie zu Hause!“ Das gilt auch für das Lesen. Nehmen Sie – wie bei einer guten Einladung – teil an dem, was passiert, leben Sie mit den Schicksalen der „Bewohner“ der folgenden Texte mit. Vielleicht geht es Ihnen beim Lesen so wie dem Autor Kurt Tucholsky: [Nick] atmete tief aus und machte sich auf denWeg zur U-Bahn, wobei er aus den Augenwinkeln Jamie beob- achtete, der oženbar auch ziemlich wütend war, jeden- falls trat er mit einigem Karacho in die Pedale und zischte an Nick vorbei die Straße hinunter. Nick setzte seinen Weg in der entgegengesetzten Richtung fort, würdigte Jamie keines Blickes mehr. […] Er registrierte den Knall zuerst gar nicht, ebenso wenig das Hupen. Erst als neben ihm Autos stehen blieben und einer der Fahrer ausstieg, begriž er, dass etwas falsch war. Er drehte sich um. Der Stau reichte von der Kreuzung, die dreihundert Meter hinter der Schule lag, bis vor zur U-Bahn-Station, die Nick beinahe erreicht hatte. „Da muss ein Unfall passiert sein“, sagte der Mann ne- ben dem Auto. Nick wusste nicht, woher er es wusste. Alles in ihm wurde auf einen Schlag kalt wie Eis. Er 2 4 6 8 10 12 14 16 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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