Sprachräume 1, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

SPRACHRAUM 4 Zusammenfassung 46 Textkompetenz Schriftliche Kompetenz chen, ebenfalls eine Neuheit, holte sogleich eine weite- re Tasse für den bärtigen Herrn, den sie ohne Zweifel, aber auch ohne Missbilligung als den neuen Haus- freund betrachtete. Kühl sei es hierzulande, meinte Isi- dor, indem er sich die gekrempelten Hemdärmel wie- der herunter machte. Die Kinder waren selig, mit dem Tropenhelm spielen zu dürfen, was natürlich nicht ohne Zank ging, und als der frische Ka—ee kam, war es eine vollendete Idylle, Sonntagmorgen mit Glocken- läuten und Geburtstagstorte. Was wollte Isidor mehr! Ohne jede Rücksicht auf das neue Dienstmädchen, das gerade noch das Besteck hinlegte, gri— Isidor nach sei- ner Gattin. „Isidor“, sagte sie und war außerstande, den Ka—ee einzugießen, so dass der bärtige Gast es selber machen musste. „Was denn?“, fragte er zärtlich, indem er auch ihre Tasse füllte. „Isidor!“, sagte sie und war demWeinen nahe. Er umarmte sie. „Isidor!“, fragte sie, „wo bist du nur so lange gewesen?“ Der Mann, einen Augenblick lang wie betäubt, setzte seine Tasse nieder; er war es einfach nicht mehr gewohnt, verheiratet zu sein, und stellte sich vor einen Rosenstock, die Hände in den Hosentaschen. „Warum hast du nie auch nur eine Karte geschrieben?“, fragte sie. Darauf nahm er den verdutzten Kindern wortlos den Tropenhelm weg, setzte ihn mit dem knappen Schwung der Routine auf seinen eigenen Kopf, was den Kindern einen für die Dauer ihres Le- bens unauslöschlichen Eindruck hinterlassen haben soll, Papi mit Tropenhelm und Revolvertasche, alles nicht bloß echt, sondern sichtlich vom Gebrauche et- was abgenutzt, und als die Gattin sagte: „Weißt du, Isi- dor, das hättest du wirklich nicht tun dürfen!“, war es für Isidor genug der trauten Heimkehr, er zog (wieder mit dem knappen Schwung der Routine, denke ich) den Revolver aus dem Gurt, gab drei Schüsse mitten in die weiche, bisher noch unberührte und mit Zucker- schaum verzierte Torte, was, wie man sich wohl vor- stellen kann, eine erhebliche Schweinerei verursachte. „Also Isidor!“, schrie die Gattin, denn ihr Morgenrock war über und über von Schlagrahm verspritzt, ja, und wären nicht die unschuldigen Kinder als Augenzeugen gewesen, hätte sie jenen ganzen Besuch, der übrigens kaum zehn Minuten gedauert haben dürŠe, für eine Halluzination gehalten. Von ihren fünf Kindern um- ringt, einer Niobe 2 ) ähnlich, sah sie nur noch, wie Isi- dor, der Unverantwortliche, mit gelassenen Schritten durch das Gartentor ging, den unmöglichen Tropen- helm auf dem Kopf. Nach jenem Schock konnte die arme Frau nie eine Torte sehen, ohne an Isidor denken zu müssen, ein Zu- stand, der sie erbarmenswürdig machte, und unter vier Augen, insgesamt etwa unter sechsunddreißig Augen, riet man ihr zur Scheidung. Noch aber ho¢e die tapfere Frau. Die Schuldfrage war ja wohl klar. Noch aber ho¢e sie auf seine Reue, lebte ganz den fünf Kindern, die von Isidor stammten, und wies den jungen Rechtsanwalt, der sie nicht ohne persönliche Teilnahme besuchte und zur Scheidung drängte, ein weiteres Jahr lang ab, einer Penelope 3 ) ähnlich. Und in der Tat, wieder war’s ihr Geburtstag, kam Isidor nach einem Jahr zurück, setzte sich nach üblicher Begrü- ßung, krempelte die Hemdärmel herunter und gestat- tete den Kindern abermals, mit seinem Tropenhelm zu spielen, doch dieses Mal dauerte ihr Vergnügen, einen Papi zu haben, keine drei Minuten. „Isidor!“, sagte die Gattin, „wo bist du denn jetzt wieder gewesen?“ Er er- hob sich, ohne zu schießen, Gott sei Dank, auch ohne den unschuldigen Kindern den Tropenhelm zu entrei- ßen, nein, Isidor erhob sich nur, krempelte seine Hem- därmel wieder herauf und ging durchs Gartentor, um nie wiederzukommen. Die Scheidungsklage unter- zeichnete die arme Gattin nicht ohne Tränen, aber es musste ja wohl sein, zumal sich Isidor innerhalb der gesetzlichen Frist nicht gemeldet hatte, seine Apotheke wurde verkauŠ, die zweite Ehe in schlichter Zurück- haltung gelebt und nach Ablauf der gesetzlichen Frist auch durch das Standesamt genehmigt, kurzum, alles nahm den Lauf der Ordnung, was ja zumal für die he- ranwachsenden Kinder so wichtig war. Eine Antwort, wo Papi sich mit dem Rest seines Erdenlebens herum- trieb, kam nie: nicht einmal eine Ansichtskarte. Mami wollte auch nicht, dass die Kinder danach fragten; sie hatte ja Papi selber nie danach fragen dürfen … 1 Zum französischen Heer gehörige Freiwilligentruppe, zusammengesetzt aus Männern jeglicher Nationalität, in Frankreichs Kolonialkriegen, besonders in Nord- afrika und Indochina, eingesetzt. 2 Gestalt der griechischen Mythologie, erstarrte vor Schmerz zu Stein, als ihre zwölf Kinder von Artemis und Apollon mit Pfeilen getötet wurden. 3 Gattin des Odysseus, die während dessen Irrfahrten lange Jahre treu auf ihn wartete. 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 156 158 160 162 164 Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verlags öbv

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