Sprachräume 1, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

15 Jörg-Martin Willnauer: Die neuen Nachbarn Zuerst hatte es wochenlang ununterbrochen geschneit. Das ganze Land war unter einer meterhohen Schnee- decke versunken. Schulen, Ämter und Betriebe hatten ihre Tore geschlossen; zahllose Dörfer waren von der Außenwelt abgeschnitten. Längst hatte man die Schneeräumung aufgegeben. Der Autoverkehr kam zum Erliegen, der Bahnverkehr wurde eingestellt. Die Flughäfen konnten die Verbindung zur Außenwelt nicht mehr aufrechterhalten. Über dem Land lag eine gespenstische Stille. Die Menschen saßen zu Hause am Radio, lasen oder sahen fern. Doch die Lebensmittel- vorräte gingen allmählich zur Neige, das Heizmaterial wurde knapp. Wie viele Opfer der ununterbrochene Schneefall gefordert hatte, wusste niemand. Das Land erstickte in Lautlosigkeit. Doch plötzlich war alles anders: Der Schneefall hatte unvermittelt aufgehört, die Temperaturen stiegen auf 25 Grad über Null. Die Schneeschmelze setzte ein. Gi- gantische Wassermassen wälzten sich talabwärts und rissen Gebäude, Straßen und Muren mit sich. Als das Schlimmste vorüber war, wagten sich die Men- schen vorsichtig aus den Häusern, zählten die Opfer und begannen, die Schäden zu registrieren. Man woll- te zur Normalität zurück. Da kam diese unglaubliche Meldung aus Radkersburg: Slowenien war verschwunden. Der steirische Grenzort lag am Meer. Zunächst glaubte man, die Mur sei infol- ge der Schneeschmelze über die Ufer getreten, aber Salzwasser und Gezeiten sprachen dagegen. Ähnliche Meldungen kamen aus Spielfeld und dem Burgenland: Heiligenkreuz, Deutsch-Schützen und Mannersdorf lagen ebenfalls am Meer. Ganz Ungarn war weg. Südlich der Karawanken war ein neuer Staat aufge- taucht; doch der o±zielle Bericht der Kärntner Lan- desregierung ließ lange auf sich warten. Der neue Nachbar hieß Burundi. In Niederösterreich, Oberösterreich und Salzburg wa- ren ebenfalls dramatische Veränderungen an den Grenzen beobachtet worden […] 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 Lesen Sie die Geschichte von Nadja Einzmann und bearbeiten Sie die angeschlossenen Aufgaben dazu. Geben Sie mündlich wieder, worum es in der Geschichte „An manchen Tagen“ geht und was in ihr berichtet wird. Übernehmen Sie die nachfolgende Tabelle in Ihr Heft und tragen Sie stichwortartig in die Tabelle ein, was sowohl die Mutter als auch die Ich-Erzählerin/der Ich-Erzähler wissen kann und was nur die Ich-Erzählerin/ der Ich-Erzähler wissen kann. was sowohl die Mutter als auch die Ich-Erzählerin wissen kann was nur die Ich-Erzählerin wissen kann ƒƒ … ƒƒ … … … Geben Sie die Geschichte aus Sicht der Mutter wieder. Vergleichen Sie anschließend Ihre Fassung mit denen Ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler. Diskutieren Sie über die Unterschiede. Sie können Ihre Geschichte so beginnen: „An manchen Tagen weiß ich einfach nicht, was mit meiner Tochter los ist. Sie sitzt dann einfach nur auf ihrem Bett in ihrem Zimmer. Ich versuche dann, sie zu irgendetwas zu motivieren, und so klopfe ich gelegentlich an ihre Türe. …“ Schreiben Sie auf, was der Erzählerin durch den Kopf geht (ihre Gedanken, Gefühle …), wenn ihre Mutter an die Türe klopft. Sie können so beginnen: „Es klopft. Mist. Wird sicher wieder meine Mutter sein. Sie kann einfach nicht verstehen, dass ich manchmal mit mir alleine sein muss. Ja, es ist meine Mutter. Sie sagt irgendwas. Interessiert mich nicht. Ich …“ Schreiben Sie einen inneren Monolog. – Themenvorschläge: „Auf dem Zahnarzt-Stuhl“, „Während der Schularbeit“, „Beim Begräbnis“. 1.15 a b c Diese Art von Erzähltechnik wie in Aufgabe d) nennt man „ inneren Monolog “. Man versucht in der Ich-Form all das zu erzählen, was einem durch den Kopf geht („Bewusstseinsstrom“): Gedanken, Fantasien, Erinnerungen, Ablenkungen durch andere(s), wie Gespräche, Gehörtes, Gesehenes, Gefühltes, Ertastetes. Typisch dafür sind das Hin- und Herspringen der Gedanken, unvollständige Sätze, Wortfetzen, Umgangssprachliches. d e Lesen Sie den folgenden Text „kreativ“. Lassen Sie sich dazu beim Lesen von Ihrer Fantasie treiben, stellen Sie sich das Gelesene bildlich vor (Sie können zwischendurch auch die Augen schließen), stellen Sie sich vor, Sie wären in der Geschichte, Sie wären eine der betroffenen Personen. Machen Sie Fantasie-Pausen zwischen den Sätzen. 1.16 Schriftliche Kompetenz Textkompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=