Sprachräume 1, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

149 Text 1: Der antike Mythos in der Wiedergabe von Gustav Schwab Textkompetenz Literarische Bildung Und wie, in welcher Form, lesen wir die antiken Mythen? Selten lesen wir die griechischen Mythen tatsächlich im „Original“, das heißt in genauer Übertragung ins Deutsche; noch seltener in der „Originalsprache“, also auf Griechisch oder Lateinisch. Meist benützen wir Nacherzählungen. Zu den am weitesten verbreiteten gehören die von Gustav Schwab (1792–1850). Sein Zielpublikum waren Schülerinnen und Schüler der höheren Schulen, bald wurden die Nacherzählungen auch von Erwachsenen gelesen. Schwab legte großen Wert darauf, nahe an den Originaltexten zu bleiben und sie, „wo immer möglich, mit ihren eigenen Worten nachzuerzählen“. Er schwächte aber erotische oder ihm zu grausam erscheinende Stellen ab: „Nur dafür hat der Verfasser gesorgt, dass alles Anstößige entfernt bleibe.“ Neuere, sehr erfolgreiche Nacherzählungen antiker Mythen wie auch von Geschichten aus der Bibel oder der Nibelungensage gelangen dem Vorarlberger Autor Michael Köhlmeier (*1949). Mit diesem Feuer eilte Prometheus zur Erde zurück, und alsbald loderte der erste Holzstoß gen Himmel. Der rote Schein des ersten Erdenfeuers schmerzte Zeus tief. „Ich sehe Flammen und Rauch emporsteigen“, sag- te er düster, „nun werden sie da unten Herde bauen und dem Winter trotzen. Sie werden Gold und Silber schmelzen und schimmerndes Geschmeide daraus formen. Sie werden das Eisen glühen und es zu Pƒügen und Schwertern schmieden, und ihr Übermut wird kein Ma߅nden, so dass sie uns die Opfer verweigern werden. Doch ehe es soweit kommt, dass sie die Himmlischen verachten, will ich ihnen alle grausigen Übel an den Hals hetzen, damit sie die Macht der Göt- ter erkennen, der rebellische Feuerdieb aber seine Ohnmacht!“ Unverzüglich rief Zeus den Götter- schmied Hephaistos herbei und befahl ihm, das Zau- berbild einer schönen Jungfrau anzufertigen. […] Pandora, die „Allbeschenkte“, so nannte Zeus die Jungfrau. Doch hatte Pandora von den Göttern nicht nur schöne und liebliche Gaben erhalten, sondern in einem großen Gefäß mit einemDeckel auch eine schier unübersehbare Menge grässlicher Übel. So ausgerüs- tet, ließ sie sich hinab auf die Erde geleiten. […] Frei von allen Übeln, ohne beschwerliche Arbeit und quä- lende Krankheiten hatten die Menschen unter Prome- theus’ Führung ihre Tage verlebt. Nun aber rasten Tod und Pest über die Erde. Nachdem die Menschheit so ins Elend geraten war, wandte sich die Rache des Göt- tervaters gegen Prometheus. Er übergab ihn dem Hephaistos und seinen Dienern, dem Zwang und der Gewalt. Diese mussten ihn […] über einem schauderha™en Abgrund an eine Felswand des Berges Kaukasus mit unauƒöslichen Ketten schmieden. Ungerne vollzog Hephaistos den Au™rag seines Vaters Zeus. Unter mitleidsvollen Worten und von den rohen Knechten gescholten, ließ er diese das grausame Werk vollbringen. So musste nun Prome- theus an der freudlosen Klippe hängen, aufrecht, schlaƒos. „Viele vergebliche Klagen und Seufzer wirst du versenden“, sagte Hephaistos zu ihm, „denn des Zeus Sinn ist unerbittlich.“ Die Qual des Gefangenen sollte ewig oder doch zumindest dreißigtausend Jahre dauern. Doch Prometheus blieb ungebeugt. […] Zeus aber sandte dem Gefesselten einen Adler, der als tägli- cher Gast an seiner Leber zehren dur™e, die sich im- mer wieder erneuerte. Der Felsen troŸ von dem herab- strömenden Blut des Gemarterten, dem nur eines noch helfen konnte: Ein Unsterblicher musste auf seine Un- sterblichkeit verzichten, musste Zeus um die Gnade des Sterbens bitten und freiwillig in den Hades hinab- steigen. […] Als Prometheus viele Jahre an dem Felsen gehangen, kamHerakles des Weges, auf der Fahrt nach den Hesperiden und ihren Äpfeln. Er sah, wie der Ad- ler, auf den Knien des Prometheus sitzend, an der Le- ber des Unglücklichen fraß. Da legte er Keule und Lö- wenhaut hinter sich, spannte den Bogen, entsandte den Pfeil und schoß den grausamen Vogel von der Leber des Gequälten hinweg. Hierauf löste er seine Fesseln und führte den Befreiten davon. Damit der Urteilsspruch erfüllt würde, führte Herakles den un- sterblichen Zentauren Chiron vor Zeus, der, getroŸen von einem vergi™eten Pfeil, unsägliche Qualen litt. Er bot sich an, an Prometheus’ Stelle zu sterben. Damit Zeus’ Urteil dennoch erfüllt werde, musste Prome- theus einen eisernen Ring tragen, an welchem sich ein Steinchen von jenem Kaukasusfelsen befand. So konn- te sich Zeus rühmen, dass sein Feind noch immer an den Kaukasus angeschmiedet lebe. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 Einzelheiten eines Textes erfassen, textbezogene Informationen einholen Aus welchem Grund verweigert Zeus den Menschen das Feuer? Wie bestraft er sie? Welche Rollen spielen Zeus, Hephaistos, Herakles und Chiron in Bezug auf Prometheus? Wen könnte man in die Reihe der „Hilfreichen“ einordnen, wen in die Reihe der „Mitleidsvollen“, aber „Machtlosen“. Mit welcher Ausflucht will Zeus den Anschein wahren, Prometheus bleibe doch am Felsen angeschmiedet? Informieren Sie sich über die Hesperiden, ihren Bezug zu Herakles und über das Wesen der Kentauren. Ordnen Sie den Prometheus-Mythos dem entsprechenden Mythentypus zu. 13.2 a b Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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