Sprachräume 1, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

135 wächst überall schon Gras und Brennnesseln und an- deres Grünes. Ich halt ein Stück Brot in der Hand, das ist schon hart, aber meine Mutter sagt, altes Brot ist gesünder als frisches. In Wirklichkeit ist es deswegen, weil sie meint, am alten Brot muss man länger kauen und dann wird man von weniger satt. Bei mir stimmt das nicht. Plötzlich fällt mir ein Brocken herunter. Ich bück mich, aber im nämlichen Augenblick fährt eine rote Pfote aus den Brennnesseln und angelt sich das Brot. Ich hab nur dumm schauen können, so schnell ist es gegangen. Und da seh ich, dass in den Brennnesseln eine Katze hockt, rot wie ein Fuchs und ganz mager. „Verdammtes Biest“, sag ich und werf einen Stein nach ihr. Ich hab sie gar nicht tre‹en wollen, nur verscheu- chen. Aber ich muss die doch getro‹en haben, denn sie hat geschrien, nur ein einziges Mal, aber so wie ein Kind. Fortgelaufen ist sie nicht. Da hat es mir leidge- tan, dass ich nach ihr geworfen hab, und ich hab sie gelockt. Aber sie ist nicht aus den Nesseln rausgegan- gen. Sie hat mich immerfort angeschaut mit ihren grü- nen Augen. Da hab ich sie gefragt: „Was willst du ei- gentlich?“ Das war verrückt, denn sie ist doch kein Mensch, mit dem man reden kann. Dann bin ich är- gerlich geworden über sie und auch über mich, und ich hab einfach nicht mehr hingeschaut und hab ganz schnell mein Brot hinuntergewürgt. Den letzten Bis- sen, das war noch ein großes Stück, den hab ich ihr hingeworfen und bin ganz zornig fortgegangen. […] Wie ich auf die Hauptstraße komm, steht da ein ameri- kanisches Auto, so ein großer langer Wagen, ein Buick, glaub ich, und da fragt mich der Fahrer nach dem Rat- haus. Auf Englisch hat er gefragt, und ich kann doch ein bisschen Englisch. „—e next street“, hab ich gesagt, „and then le and then“ – geradeaus hab ich nicht ge- wusst auf Englisch, das hab ich mit dem Arm gezeigt, und er hat mich schon verstanden. „And behind the church ist the marketplace with the Rathaus.“ Ich glaub, das war ein ganz gutes Amerikanisch, und die Frau im Auto hat mir ein paar Schnitten Weißbrot ge- geben, ganz weißes, und wie ich’s au›lapp, ist Wurst dazwischen, ganz dick. Da bin ich gleich heimgerannt mit dem Brot. Wie ich in die Küche komm, da verste- cken die zwei Kleinen schnell was unterm Sofa, aber ich hab es doch gesehen. Es ist die rote Katze gewesen. Und auf dem Boden war ein bisschen Milch verschüt- tet, und da hab ich alles gewusst. „Ihr seid wohl ver- rückt“, hab ich geschrien, „wo wir doch nur einen hal- ben Liter Magermilch haben im Tag, für vier Perso- nen.“ Und ich hab die Katze unterm Sofa herausgezo- gen und hab sie zum Fenster hinausgeworfen. Die bei- den Kleinen haben kein Wort gesagt. Dann hab ich das amerikanische Weißbrot in vier Teile geschnitten und den Teil für die Mutter im Küchenschrank versteckt. „Woher hast du das?“, haben sie gefragt und ganz ängstlich geschaut. „Gestohlen“, hab ich gesagt und bin hinausgegangen. Ich hab nur schnell nachsehn wollen, ob auf der Straße keine Kohlen liegen, weil nämlich ein Kohlenauto vorbeigefahren war, und die verlieren manchmal was. Da sitzt im Vorgarten die rote Katze und schaut so an mir rauf. „Geh weg“, hab ich gesagt und mit dem Fuß nach ihr gestoßen. Aber sie ist nicht weggegangen. Sie hat bloß ihr kleines Maul aufge- macht und gesagt: „Miau.“ Sie hat nicht geschrien wie andere Katzen, sie hat es einfach so gesagt, ich kann das nicht erklären. Dabei hat sie mich ganz starr ange- schaut mit den grünen Augen. Da hab ich ihr voll Zorn einen Brocken von dem amerikanischen Weiß- brot hingeworfen. Nachher hat’s mich gereut. […] Und dann ist der Winter sechsundvierzig auf sieben- undvierzig gekommen. Da haben wir wirklich kaum mehr was zu essen gehabt. Es hat ein paar Wochen lang kein Gramm Fleisch gegeben und nur gefrorene Karto‹eln, und die Kleider haben nur so geschlottert an uns. […] Und dann war ich auf einmal am Fluss. Da war Treibeis und Nebel und kalt war es. Da hat sich die Katze ganz nah an mich gekuschelt, und dann hab ich sie gestreichelt und mit ihr geredet. „Ich kann das nicht mehr sehen“, hab ich ihr gesagt, „es geht nicht, dass meine Geschwister hungern, und du bist fett, ich kann das einfach nicht mehr ansehen.“ Und auf ein- mal hab ich ganz laut geschrien, und dann hab ich das rote Vieh an den Hinterläufen genommen und habs an einen Baumstamm geschlagen. Aber sie hat bloß ge- schrien. Tot war sie noch lange nicht. Da hab ich sie an eine Eisscholle gehaut, aber davon hat sie nur ein Loch im Kopf bekommen, und da ist das Blut herausgežos- sen, und überall im Schnee waren dunkle Flecken. Sie hat geschrien wie ein Kind. Ich hätt gern aufgehört, aber jetzt hab ich’s schon fertig tun müssen. Ich hab sie immer wieder an die Eisscholle geschlagen, es hat ge- kracht, ich weiß nicht, ob es ihre Knochen waren oder das Eis, und sie war immer noch nicht tot. Eine Katze hat sieben Leben, sagen die Leute, aber die hat mehr gehabt. Bei jedem Schlag hat sie laut geschrien, und auf einmal hab ich auch geschrien, und ich war ganz nass vor Schweiß bei aller Kälte. Aber einmal war sie dann doch tot. Da hab ich sie in den Fluss geworfen und hab mir meine Hände im Schnee gewaschen, und wie ich noch einmal nach dem Vieh schau, da schwimmt es schon weit draußen mitten unter den Eisschollen, dann war es im Nebel verschwunden. Dann hat mich gefroren, aber ich hab noch nicht heimgehen mögen. „Was hast du denn?“, hat die Mut- ter gesagt, „du bist ja käsweiß. Und was ist das für Blut an deiner Jacke?“ – „Ich hab Nasenbluten gehabt“, hab ich gesagt. Sie hat mich nicht angeschaut und ist an den Herd gegangen und hat mir Pfe‹erminztee ge- macht. Auf einmal ist mir schlecht geworden, da hab ich schnell hinausgehen müssen, dann bin ich gleich ins Bett gegangen. Später ist die Mutter gekommen und hat ganz ruhig gesagt: „Ich versteh dich schon. Denk nimmer dran.“ Aber nachher hab ich Peter und Leni die halbe Nacht unterm Kissen heulen hören. Und jetzt weiß ich nicht, ob es richtig war, dass ich das rote Biest umgebracht hab. Eigentlich frisst so ein Tier doch gar nicht viel. 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 Textkompetenz Literarische Bildung Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=