Sprachräume 1, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

SPRACHRAUM 10 Die Lyrik 110 Was ist ein Gedicht? Alexander von Humboldt (1769 –1859) ist einer der berühmtesten Weltreisenden seiner Zeit. Er kämpft sich durch Urwälder, kostet Gifte, besteigt Vulkane und begegnet Kannibalen. Einmal, im Amazonasgebiet, gerät er in große Schwierigkeiten. Die Mannschaft murrt, die Strapazen sind groß. Um die Situation zu beruhigen, erzählt man, wie es der Autor Daniel Kehlmann in seinem Roman „Die Vermessung der Welt“ darstellt, einander Geschichten. Auch Humboldt wird um eine Geschichte ersucht: So wie Julio, einer der Begleiter Humboldts, mit dessen „Gedicht“ unzufrieden ist, so wären auch wir von diesem „Gedicht“ enttäuscht. Humboldt hat kein Gedicht vorgetragen, er hat im Gegenteil ein Gedicht geradezu „misshandelt“, noch dazu eines der berühmtesten der Weltiteratur. Der Autor dieses Gedichts ist Johann Wolfgang von Goethe, der Titel lautet „Ein Gleiches“, geschrieben wurde es 1805: Über allen Gipfeln Ist Ruh, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde Ruhest du auch. Die Lyrik „Sogar die hartgesottenen Profi-Sportler brummeln mit, wenn die Nationalhymne erklingt, und die Nationalhymne ist ein Gedicht. Was dem einen Rock ‚n‘ Roll, ist dem andern die Schnulze aus den Charts. Überall Gedichte, lauter Verse, für jeden etwas.“ Gedichte sind überall, meint der Lyriker Hans Magnus Enzensberger. Über Gedichte informiert Sie dieses Kapitel. q37r39 SPRACHRAUM 10 Literarische Bildung Textkompetenz Die Lyrik: Sammelbegriff für alles, was ein Gedicht ist . Der Begriff lässt sich zurückführen auf das altgriechische Wort „lyra“ und bezieht sich ursprünglich auf Dichtungen, die zur Leier, einem Zupfinstrument, gesungen wurden. Lyrische Texte unterscheiden sich von epischen und dramatischen Texten vor allem durch ihre Kürze, ihre Form (Verse, Strophen), ihre „Dichte“ (Ausdruckskraft) und ihre Subjektivität. Oft werden viele sprachliche und lautliche Mittel zur Verstärkung der Aussage verwendet: Reim, Rhythmus, sprachliche Bilder, Klang der Wörter, ungewöhnliche Anordnung von Wörtern und Sätzen. Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt und schob seinen Hut zurecht, den der Ae umgedreht hatte. Auch möge er das Erzählen nicht. Aber er könne das schönste deutsche Gedicht vortragen […]. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein. Alle sahen ihn an. Fertig, sagte Hum- boldt. […] Entschuldigung, sagte Julio. Das könne doch nicht alles gewesen sein. 2 4 2 4 6 8 6 8 Charakteristische Eigenschaften von Gedichten erkennen Ordnen Sie Goethes Gedicht und den folgenden Gedichten die unten stehenden Charakteristika lyrischer Texte zu. Nicht alle Kriterien treffen auf jedes Gedicht zu. Mehrfachzuordnungen sind möglich. Lesen Sie die Gedichte, zumindest aber die „Karawane“ laut. Es ist übrigens erst zwei Jahrhunderte her, dass man Gedichte leise und für sich liest. Gedichte haben eine sprachliche Form, die sich von der Alltagssprache unterscheidet. 10.1 a 1) Der Text von Gedichten wird in einzelne Zeilen unterbrochen. 2) Gedichte können in Strophen gegliedert sein. 3) Diese Zeilen können willkürlich abgebrochen, Gedanken können auf zwei oder mehrere Zeilen aufgeteilt werden. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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