Sprachräume 1, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

107 Joseph von Eichendor¤: Aus demLeben eines Tauge- nichts (1826) Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vomDache, die Sperlinge zwitscherten und tummelten sich dazwischen; ich saß auf der Türschwelle und wischte mir den Schlaf aus den Augen; mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine. Da trat der Vater aus dem Hause; er sagte zu mir: „Du Tauge- nichts! Da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde und lässt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann dich hier nicht länger füt- tern. Der Frühling ist vor der Tür, geh auch einmal hi- naus in die Welt und erwirb dir selber dein Brot.“ – „Nun“, sagte ich, „wenn ich ein Taugenichts bin, so ists gut, so will ich in die Welt gehen und mein Glück ma- chen.“ […] Ich ging also in das Haus hinein und holte meine Geige von der Wand, mein Vater gab mir noch einige Groschen Geld mit auf den Weg, und so schlen- derte ich durch das lange Dorf hinaus. […] Mir war es wie ein ewiger Sonntag im Gemüte. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 Georg Büchner: Lenz (1839) Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Berg¥ächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war nasskalt; das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Am Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht – und dann damp§e der Franz Rieger: Internat in L. (1986) Es war ihm alles fremd. Und dieser Zustand sollte sich nicht ändern, nur etwas abschwächen in den einein- halb Jahren, die er, bis zur Au¥ösung des Internats, dort bleiben musste […]. Albert war mit seiner Mutter mit der Bahn angereist. Das Internat befand sich in der Landeshauptstadt […]. Im Schlafsaal roch es nach ge- schrubbtem Holzboden […]. Auf dem breiten Gang Reiner Kunze: Fünfzehn (1976) Sie trägt einen Rock, den kann man nicht beschreiben, denn schon ein einziges Wort wäre zu lang. Ihr Schal dagegen ähnelt einer Doppelschleppe: lässig um den Hals geworfen, fällt er in ganzer Breite über Schienbein und Wade. […] Zum Schal trägt sie Tennisschuhe, auf denen sich jeder ihrer Freunde und jede ihrer Freun- dinnen unterschrieben haben. Sie ist fünfzehn Jahre alt und gibt nichts auf die Meinung uralter Leute – das sind alle Leute über dreißig. Wenn sie Musik hört, vi- brieren noch im übernächsten Zimmer die Türfüllun- gen. Ich weiß, diese Lautstärke bedeutet für sie Lustge- winn. Teilbefriedigung ihres Bedürfnisses nach Pro- test. Überschallverdrängung unangenehmer logischer Schlüsse, Trance. Dennoch ertappe ich mich immer wieder bei einer Kurzschlussreaktion: ich spüre plötz- lich den Drang in mir, sie zu bitten, das Radio leiser zu stellen. […] Auf den Möbeln ihres Zimmers ¥ockt der Staub. Unter ihrem Bett wallt er. Dazwischen liegen Haarklemmen, •erese Weber: Häuslerkindheit (1984) Ich wurde in Grieskirchen geboren, meine Eltern hat- ten ein Häuschen, sechs Kinder, ein Schwein und eine Kuh. Ich war das dritte Kind, die älteste Schwester war noch nicht acht Jahre, die jüngste 14 Tage, als unsere Mutter an Wochenbett—eber starb. […] Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch. Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unange- nehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn konnte. […] Es war ihm alles so klein, so nahe, so nass; er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen. […] standen große Holzkisten, versehen mit Absen- der, Adresse und mit Postklebezetteln. Jeder neu ein- tretende Zögling beziehungsweise dessen Eltern hat- ten in so einer Kiste Bettbezüge undWäsche vorauszu- senden, die nun auf dem Gang von Müttern und Söh- nen geö¡net und ausgeräumt wurden. So entstand in der Fremde etwas Vertrautes und Gewohntes. ein Taschenspiegel, Knautschlacklederreste, Schnell- he§er, Apfelstiele, ein Plastikbeutel mit der Aufschri§ ,,Der Du§ der großen weiten Welt“, angelesene und übereinandergestülpte Bücher (Hesse, Karl May, Höl- derlin), Jeans mit in sich gekehrten Hosenbeinen, halb- und dreiviertel gewendete Pullover, Strump¦o- sen, Nylon und benutzte Taschentücher. (Die Ausläu- fer dieser Hügellandscha§ erstrecken sich bis ins Bad und in die Küche.) Ich weiß: Sie will sich nicht den Nichtigkeiten des Lebens ausliefern. Sie fürchtet die Einengung des Blicks, des Geistes. Sie fürchtet die Ab- stumpfung der Seele durch Wiederholung! […] Doch nicht nur, dass ich ab und zu heimlich ihr Zimmer wi- sche, um ihre Mutter vor Herzkrämpfen zu bewahren, – ich muss mich auch der Versuchung erwehren, diese Nichtigkeiten in ihr Blickfeld zu rücken und auf die Ausbildung innerer Zwänge hinzuwirken. Einmal bin ich dieser Versuchung erlegen. Sie ekelt sich schrecklich vor Spinnen. Also sage ich: ,,Unter deinem Bett waren zwei Spinnennester.“ Ich war noch nicht sechs. Es war am 24. 12., zu Weih- nachten. Ich stand auf und ging in die Stube, da saß Vater auf dem Sessel, die Ka¡eemühle zwischen den Knien. Ich fragte ihn, warum er heute Ka¡ee reibe. Er sagte: „Die Mutter schlä§ sehr gut.“ 2 4 6 2 4 6 2 4 6 8 10 12 14 16 18 2 4 8 10 12 8 10 12 14 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 6 8 10 Erste Schritte zu einer Beschreibung eines epischen Textes Textkompetenz Literarische Bildung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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