Sprachräume 1, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

SPRACHRAUM 9 Die Epik 104 DIE NOVELLE Was eine Novelle ist, lässt sich leicht aus der Bezeichnung selbst ableiten: Italienisch „novella“ bedeutet Neuigkeit. Die Novelle erzählt eine besondere Begebenheit, die oft einen Wendepunkt im Leben eines Menschen oder einer Gemeinschaft bildet. Die erste Novelle der deutschen Literatur stammt von Johann Wolfgang von Goethe (1749 –1832), der Titel lautet auch „Novelle“. Ihre „Sensationsnachricht“ und ihr Wendepunkt: Während eines Brandes sind der Tiger und der Löwe von Schaustellern aus dem Käfig ausgebrochen. Die Stadt ist in Angst, der Tiger wird sofort erschossen, der Löwe ist flüchtig, auch ihn will man töten. Doch der Schausteller, dessen Frau und ihr kleiner Sohn bitten, das Tier, das sich auf der Burg versteckt hat, auf ihre Weise, mit der Musik einer Flöte, einfangen zu dürfen. Der Wächter („Wärter“) der Burg verhandelt mit der Schaustellerfamilie: Die Löwenjäger senken beschämt ihre Gewehre. Sie haben erkannt, dass Zuneigung und Geduld mehr ausrichten können als rohe Gewalt. „Ihr glaubt also, dass Ihr den entsprungenen Löwen, wo Ihr ihn antre¤, durch Euren Gesang, durch den Gesang dieses Kindes, mit Hilfe dieser Flötentöne be- schwichtigen und ihn sodann unschädlich sowie unbe- schädigt in seinen Verschluss wieder zurückbringen könntet?“ Sie bejahten es, versichernd und beteuernd. […] „Es sei“, versetzte der Wärter; „aber ich kenne meine P¥ichten. Erst führ ich Euch durch einen be- schwerlichen Steig auf das Gemäuer hinauf, gerade dem Eingang gegenüber, den ich erwähnt habe; das Kind mag hinabsteigen […] und das besän§igte Tier dort hereinlocken!“ Das geschah; Wärter und Mutter sahen versteckt von oben herab, wie das Kind die Wen- deltreppen hinunter in dem klaren Hofraum sich zeig- te und in der düstern Ö¡nung gegenüber verschwand, aber sogleich seinen Flötenton hören ließ, der sich nach und nach verlor und verstummte. […] Endlich hörte man die Flöte wieder; das Kind trat aus der Höh- le hervor mit glänzend befriedigten Augen, der Löwe hinter ihm drein, aber langsam und, wie es schien, mit einiger Beschwerde. Er zeigte hie und da Lust, sich nie- derzulegen; doch der Knabe führte ihn im Halbkreise durch die wenig entblätterten, bunt belaubten Bäume, bis er sich endlich in den letzten Strahlen der Sonne […] niedersetzte und sein beschwichtigendes Lied abermals begann. […] Indessen hatte sich der Löwe ganz knapp an das Kind hingelegt und ihm die schwe- re rechte Vordertatze auf den Schoß gehoben, die der Knabe fortsingend anmutig streichelte, aber gar bald bemerkte, dass ein scharfer Dornzweig zwischen die Ballen eingestochen war. Sorgfältig zog er die verlet- zende Spitze hervor, nahm lächelnd sein buntseidenes Halstuch vomNacken und verband die greuliche Tatze des Untiers […]. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 Motive von Texten vergleichen Das Thema der „Novelle“ findet sich auch in der antiken Orpheussage. Welche Fähigkeit von Orpheus findet sich in der Zähmung des Löwen bei Goethe wieder? 9.9 Erzählzeit und erzählte Zeit Bei dem folgenden Text handelt es sich wohl um den kürzesten epischen Text der gesamten Weltliteratur, die „Kurzgeschichte aus elf Wörtern“ von Jorge Luis Borges: Der Fremde erstieg im Dunkeln die Stufen: Klick-klack. Klick-klack. Sie brauchen für das Lesen etwa genauso lange wie der Fremde für das Stufensteigen. Einer der längsten Romane der Literatur ist „Ulysses“ von James Joyce. Er umfasst in einer eng bedruckten Taschenbuchausgabe mit extrem geringer Schriftgröße 840 Seiten. Der Name Ulysses ist die englische Übersetzung von Odysseus. Doch während Homer seinen Helden zehn Jahre herumirren lässt, erzählt Joyce nur einen einzigen Tag aus dem Leben von Leopold Bloom, den 16. Juni 1904. Die Erzählzeit beträgt ein Vielfaches der erzählten Zeit. Erzählzeit und erzählte Zeit Der Begriff Erzählzeit bezeichnet die Zeitspanne, die man für die Lektüre eines Textes braucht. Der Begriff erzählte Zeit bezeichnet jenen Zeitraum, über den sich die Geschichte inhaltlich erstreckt. Decken sich Erzählzeit und erzählte Zeit, spricht man von zeitdeckendem Erzählen . Bei zeitraffendem Erzählen ist die Erzählzeit kürzer als die erzählte Zeit. Bei zeitdehnendem Erzählen ist die Erzählzeit länger als die erzählte Zeit, z. B. wenn die Gedanken von Personen wiedergegeben werden sollen. Textkompetenz Literarische Bildung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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