Zeitbilder 7, Schülerbuch

ginn bis zum heutigen Tage noch immer von den Flüchtlingen der damaligen Zeit sich eine bestimmte Sorte – es sind das die Ostjuden – in Wien aufhält und anscheinend durch nichts aus Wien hinauszubringen ist. (…) Nur die Ostjuden (…), weil sie keinen Heimatbegriff kennen, sind hier geblieben. Die Heimat des Juden ist der Boden, wo sein Hafer wächst, und nur so lange, als Hafer eingebracht werden kann. (…) Der Heuschreck lässt das Land, das er überfallen hat, nicht eher los, als bis er es kahl gefressen hat. (…) Solange die Juden Anspruch darauf hatten, von uns Gastrecht zu verlangen, weil sie vertriebene, landflüchtige Leute waren, so lange (…) hat das arische Wien (…) vergessen auf die Gefahren und Beschwernisse, die die Anwesenheit der Ostjuden für ihr eigenes Leben bedeutet. (…) Und nun ruft unser Volk ohne Unterschied der Partei, (…) danach, dass Wien endlich befreit werde von der Plage der Ostjuden (…). Wer über Geld verfügt, konnte nicht nur in der Monarchie, der kann auch in der Republik ein Obdach finden. Wer über Geld nicht verfügt – und das sind die breiten Massen der Arbeiter –, der ist all den furchtbaren Erscheinungen der Wohnungsnot schutz- und wehrlos überantwortet (…). (Protokoll der 78. Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung der Republik Österreich am 29. 4. 1920. Online auf: http://alex.onb. ac.at/cgi-content/alex?aid=spe&datum=0002&page=2787&size=51, 24. 9. 2017) „Deutsche Christen, rettet Österreich!“ Wahlplakat der Christlichsozialen Partei, 1920: Bernd Steiner, antisemitisches Wahlplakat der Christlichsozialen Partei in Wien für die Nationalratswahl 1920. Fragen und Arbeitsaufträge 1. Vergleiche mit Hilfe von M1 die drei Urteilstypen. 2. Überprüfe und analysiere, welche Urteilstypen M2 und M3 beinhalten. 3. Erläutere und beurteile ausführlich die Aussage, dass M4 und M5 antisemitische Vorurteile schüren. M5 1678 wurde eine Kirche über dem „Judenstein“ errichtet, eine Kinderleiche wurde als Reliquie dorthin überführt. (…) Die katholische Kirche beendete den Kult schrittweise. 1953 strich der Innsbrucker Bischof Paulus Rusch den Anderl-Gedenktag am 12. Juli aus dem kirchlichen Festkalender. 1985 ließ Bischof Stecher die angeblichen Gebeine des Anderl von Rinn aus dem Altar der Kirche über dem Judenstein entfernen. 1988 wurde die Verehrung des Andreas als Märtyrer amtskirchlich in aller Form verboten. (…) Katholische Fundamentalisten gehen [dennoch] unbeirrt alljährlich am Sonntag nach dem 12. Juli auf Pilgerfahrt nach Rinn. (…) Zu den Gläubigen gesellen sich politisch rechts Stehende und Judenfeinde. (…) (Benz, Jüdische Kulturzeitschrift, Heft 94, 04/2012. Online auf: www. davidkultur.at/ausgabe.php?ausg=94&artikel=747, 19. 9. 2017). Antwortbrief des Bischofs Paul Rusch aus dem Jahr 1954 auf eine Bitte, die jährlich abgehaltenen Ritualmordfestspiele zu verbieten: Dieses Spiel wird von einer Spielgruppe durchgeführt, die ihren eigenen Willen hat. Ich habe (…) mit Mühe erreicht, dass sich diese Leute verpflichtet haben, dieses Spiel fünf Jahre lang nicht mehr aufzuführen. (…) Was nun die Ritualmorde rein historisch gesehen betrifft, so sind die Historiker hierüber verschiedener Ansicht. Eine große Zahl neigt durchaus nicht zu Ihrer Meinung. Es wird also hier zu berücksichtigen sein, daß es fundierte Meinungen gibt, die anderer Ansicht sind. Im Gesamtzusammenhang der Dinge ist auf alle Fälle zu beachten, dass es immerhin die Juden waren, die unseren Herrn Jesus Christus gekreuzigt haben. Weil sie also zur NS-Zeit zu Unrecht verfolgt wurden, können sie sich jetzt nicht plötzlich gerieren, als ob sie in der Geschichte überhaupt nie ein Unrecht getan hätten. Das kann ja kein Volk von sich behaupten, auch das österreichische nicht. Ich bemerke abschließend noch, dass es sich in Rinn überhaupt nicht um eine Judenhetze handelt, sondern um ein Spiel, das in einer volkstümlichen Art dem Volk eben Freude zu machen scheint. In ähnlichen Spielen werden ja auch oft die Bauern verulkt und zum besten gehalten, ohne daß deswegen jemand Anstoß nehmen würde. Diese Nachrichten zu ihren Diensten. Mit freundlichen Segensgrüßen Paul Rusch e. h. (Zit. nach: Albrich, Das offizielle Ende der Ritualmordlegenden um Simon von Trient und Andreas von Rinn. Online auf: www.erinnern.at/ bundeslaender/tirol/unterrichtsmaterial/thomas-albrich-hg.-juedisches-leben-im-historischen-tirol/Ende%20der%20Ritualmorlegende%20Rinn.pdf, 18. 9. 2017) Der christlichsoziale, spätere ÖVP-Politiker Leopold Kunschak berichtete über die im Ersten Weltkrieg aus dem Osten der Monarchie nach Wien geflohene jüdische Bevölkerung im Nationalrat (1920): Abgeordneter Kunschak: (…) diese Eiterbeule am Körper unseres Volkslebens wie unseres Staatslebens besteht in der Tatsache, dass seit dem KriegsbeM3 M4 Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg 77 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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