2b. Feminismus Die Universitätsdozentin für Philosophie und Frauenforscherin Silvia Stoller über den Feminismus: Wer glaubt, die Ziele des Feminismus seien erreicht, der irrt. Rechtliche Gleichheit bedeutet noch lange nicht, dass das Recht auch umgesetzt wird. Wer vor dem Gesetz gleich ist, wird nicht automatisch gleich behandelt. Hier sprechen Zahlen und Statistiken eine klare Sprache, angefangen von der geringeren Entlohnung von Frauen über den geringen Anteil weiblicher Führungskräfte bis hin zu den Opferstatistiken häuslicher Gewalt. Abgesehen von der rechtlichen Seite sind patriarchale Denkmuster nach wie vor tief in der Gesellschaft verankert. Gebildete Frauen werden nicht überall mit offenen Armen empfangen, Feministinnen nach wie vor als „Emanzen“ beschimpft, Frauen in leitenden Positionen als „Karrierefrauen“ deklassiert und nicht wenige sind heute noch der Ansicht, Frauen gehören an den Herd. (…) Darüber hinaus gibt es ein neues gesellschaftliches Phänomen: den selbstbewusst auftretenden radikalisierten Antifeminismus. Dieser findet Unterstützung in der konservativen Väterrechtsbewegung ebenso wie in Religionsgemeinschaften und wird systematisch von den sogenannten Maskulisten propagiert. Letztere stellen Männer als Opfer des Feminismus dar. (…) Der Antifeminismus ist aber auch gesellschaftsfähig geworden: Er findet sich mittlerweile in hohen akademischen Kreisen ebenso wie im gehobenen Journalismus. Der Feminismus hat also nicht ausgedient, sondern neue Herausforderungen bekommen. (…) Die Anliegen des Feminismus enden nicht dort, wo einige Grundforderungen umgesetzt werden. Ungleichbehandlung, Ausgrenzung, Misogynie (= Frauenfeindlichkeit), Diskriminierung, Sexismus, Ausbeutung, Frauenhandel müssen auch in globaler Perspektive betrachtet werden. Sich hier zurückzulehnen und zu behaupten, es sei alles schon erledigt, hieße auf einem Auge blind zu sein. Der Feminismus als politische Bewegung ist eine sehr junge Bewegung. Grundlegende gesellschaftliche Veränderungen brauchen ihre Zeit. Ihre Anliegen müssen fortwährend formuliert, erstritten, verteidigt werden. Der Feminismus hat nicht ausgedient, er hat gerade erst begonnen. (Stoller. In: Kleine Zeitung, 8. 3. 2015, S. 3) Fragen und Arbeitsaufträge 1. Arbeite anhand von M1 die Vorstellungen von „Feminismus“ heraus, welche in den 1970er Jahren entwickelt wurden. Ziehe dazu auch die Ergebnisse aus dem Kapitel „Frauenemanzipation und Gleichstellungspolitik in Österreich“ heran. 2. Vergleiche die Sichtweisen von „Feminismus“ der beiden Autorinnen in M1 und M2. Halte jeweilige Schlussfolgerungen fest. 3. Organisiert auf der Grundlage der Ergebnisse von Aufgabe 1 und 2 eine Podiumsdiskussion zum Thema „Alternative Perspektiven des Feminismus – seine mögliche Bedeutung für unsere Gegenwart und Zukunft“. M2 Die Materialien M1 und M2 dienen der Weiterentwicklung der Historischen Orientierungskompetenz. Die Autorinnen Kelle und Stoller betrachten Sinn, Zweck und Ziele von „Feminismus“ bzw. „Antifeminismus“ aus unterschiedlichen Perspektiven. Sie hinterfragen bzw. problematisieren vorhandene Orientierungsangebote auf unterschiedliche Weise und gelangen solcherart zu alternativen Angeboten für gegenwärtige Aufgaben des Feminismus. Die Journalistin Birgit Kelle, Autorin des Buches „Gender-Gaga“, über den Feminismus: Die Frage nach Sinn und Zweck von Feminismus scheitert schon daran, was der Feminismus denn heute noch erreichen will. Denn während von den Golden Girls à la Alice Schwarzer immer noch die Debatten aus den 70ern ausgetragen werden, in denen der Mann der Feind ist und der Sturz des Patriarchats das Ziel ist, ist es bereits für meine Generation nur noch ein aberwitziger Gedanke, dass ich nicht die gleichen Rechte haben sollte wie ein Mann. Und so rüstet man sich alljährlich am Internationalen Frauentag zu den allgemeinen „Das Glas ist halb leer“- Festspielen, an denen dann bejammert wird, wie schlimm doch alles immer noch ist, anstatt zu realisieren, dass diese Welt schon lange eine ganz andere ist als früher. Gleichzeitig wird der alleinige Opferstatus der Frau wie eine heilige Kuh gehütet. (…) Es lebt eine ganze feministische Bewegung davon, Probleme zu beschwören – oder im Zweifel auch zu konstruieren. Was Feminismus zu wollen hat, ist damit klar: mehr Berufstätigkeit der Frau, mehr Unabhängigkeit, mehr Frauenkarrieren und eine neue Vielfalt der Geschlechter, auch Gender-Mainstreaming und sexuelle Vielfalt genannt. (…) Nüchtern betrachtet wird das Leben einer Frau dann als erfolgreich betrachtet, wenn sich ihr Lebenslauf dem des Mannes am meisten angeglichen hat. Es ist trauriges Erbe eines verfehlten Feminismus, dass ein spezifisch weiblicher Lebensweg als nicht mehr erstrebenswert gilt. Dass Mutterschaft nur noch ein Problem darstellt. Haben wir Frauen wirklich nichts Anderes anzubieten, als ein besserer Mann zu werden? Die Fronten verlaufen schon lange nicht mehr zwischen Mann und Frau, sondern zwischen Frauen untereinander, die um die Deutungshoheit über das eine, richtige Frauenleben ringen. Es ist eine Tragödie, dass man als Frau früher gegen die Männer ankämpfen musste, um aus einer traditionellen Rolle treten zu dürfen, und heute gegen die Frauen ankämpfen muss, um in der Rolle bleiben zu können. Was soll ich als vierfache Mutter mit einem Feminismus, der meinen Lebensentwurf als Hausfrau ablehnt, der mich als Retro-Weibchen beschimpft, Verräterin am großen Frauenkollektiv? Nur weil mein Weg ein anderer ist. Was ich aber noch weniger brauche, sind Feministinnen, die in die Fußstapfen der Männer getreten sind, um mir jetzt an deren Stelle das Leben schwer zu machen. (Kelle. In: Kleine Zeitung, 8. 3. 2015, S. 2) M1 Politische und soziale Welten nach 1945 143 Orientierungsangebote aus Darstellungen der Vergangenheit hinterfragen und mit alternativen Angeboten konfrontieren Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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