Zeitbilder 7, Schülerbuch

nicht wie angenommen erfüllen würden. Die Unterschiede zwischen den reichen und armen Ländern wurden nicht geringer, sondern immer größer. Viele Untersuchungen über die bisher im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit geleistete Hilfe zogen daher eine negative Bilanz. So hieß es z. B. 1991 in einer indischen Studie über die finanziellen Leistungen der letzten dreißig Jahre: QSie haben „das Gleichgewicht der Wirtschaft gestört“ und den Bestrebungen entgegengewirkt, tatsächlich unabhängig zu werden. (…) Die ausländische Hilfe habe den Willen des Landes „zerfressen“, eigene Hilfsquellen zu erschließen, und die Wirtschaft des Landes daher in eine wachsende „HilfeAbhängigkeit“ gesteuert. Die Mittel seien größtenteils für den Erhalt und Verbrauch ausländischer Importe und den Schuldendienst aufgewendet worden. So hätten z. B. die US-Weizenimporte (…) das Gefühl geschaffen, dass importieren einfacher sei, als selbst zu produzieren. (Frankfurter Rundschau, 19. 5. 1991, S. 3) Diese Darstellung löste viele häufig sehr gegensätzliche Reaktionen aus. Sie führte zu scharfer Kritik an der bestehenden Praxis der Entwicklungszusammenarbeit. Diese Kritik richtete sich hierbei sowohl gegen die Industrie- als auch gegen die Entwicklungsländer selbst. 1985 trat die deutsche Politikerin Brigitte Erler sogar für die Abschaffung jeder „Entwicklungshilfe“ ein. In ihrem Buch „Tödliche Hilfe“ hielt sie unter anderem Folgendes fest: QEntwicklungshilfe pumpt Kapital in Länder, deren Reiche keine oder wenig Steuern zahlen. (…) Stattdessen schaffen sie ihr Geld auf Schweizer Konten. • Was sich bei uns als arbeitsplatzvernichtend und ökologisch unvertretbar erwiesen hat, wird (…) bedenkenlos in die Dritte Welt exportiert. Modernisierung der Landwirtschaft bedeutet die Vernichtung kleinbäuerlicher Existenzen, Modernisierung der Industrie die Zerstörung von traditionellem Kleingewerbe. • Entwicklungshilfe dient der Marktöffnung für unsere Industrieprodukte und fördert den Export landwirtschaftlicher Produkte aus Ländern mit Hunger. Sie trägt dazu bei, die Wirtschaften der Entwicklungsländer auf die Bedürfnisse der Industrieländer auszurichten anstatt auf die Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung. (Zit. nach: Gärtner u. a., Internationales Kräftefeld, 1990, S. 155 f.) Seit 30 Jahren beschäftigt sich der britisch-US-amerikanische Nobelpreisträger für Wirtschaft, Angus Deaton, ebenfalls mit den Folgen der Entwicklungshilfe: L So paradox es klingt: Die Entwicklungshilfe gehört zu den Dingen, die insbesondere in Subsahara- Afrika und einigen anderen Ländern die Entwicklung erschweren. Der gewaltige Strom an Hilfsgeldern den 1970er Jahren, wodurch sich ihr Anteil am Welthandel vergrößerte. Allerdings hängt der Rang dieser Länder wesentlich von der Höhe des Erdölpreises ab. ––Die Gruppe jener Länder, die sich „an der Schwelle zum Industriestaat“ befinden. –– Die große Gruppe der „armen Länder“ wurde vielfach nochmals unterteilt in „Least Developed Countries“ und „Most Seriously Affected Countries“. Aufgrund dieser vielfachen Unterschiede sprachen manche von einer „Vierten“ und „Fünften Welt“. Viele stellen aber die Frage, ob es überhaupt noch sinnvoll ist, diese Unterscheidungen zu treffen. Sie regen vielmehr an, von „einer Welt“ zu sprechen, in der es allerdings vielfältige Formen der Ungleichheiten und Abhängigkeiten vieler Länder von den reichen Industrieländern gibt. 2.2 Ernüchternde Entwicklungspolitik Der erfolgreiche Abschluss der formalen politischen Entkolonialisierung und damit die politische Unabhängigkeit dieser Länder rief in den 1950er und 1960er Jahren großen Optimismus hervor, dass auch der wirtschaftliche Entwicklungsprozess nach dem Muster der Industrieländer erfolgreich verlaufen würde. Als Voraussetzungen dafür wurden angesehen: –– Kapitalinvestitionen, –– Industrialisierung, –– freier Handel, ––Entwicklung von an der „Modernisierung“ orientierten Führungseliten in Politik und Wirtschaft. L Solche Überlegungen bildeten das Fundament der „Entwicklungspläne“ der Nachkriegszeit (in Wirklichkeit handelte es sich aber um Wachstumspläne). Vor allen Dingen rechtfertigte es die Hilfsprogramme, mit denen die „Entwickelten“ den „weniger Entwickelten“ helfen sollten, den Rückstand aufzuholen. Soziale Ziele waren bis in die Siebzigerjahre hinein von untergeordneter Bedeutung, ging man doch davon aus, dass sich niedrigere Arbeitslosigkeit und größere Gleichheit, ja sogar eine parlamentarische Demokratie ganz von allein einstellen würden, sobald das Pro-Kopf-Einkommen nur genügend gestiegen wäre. (Seers, Prioritäten, 1978, S. 14) Hinzu kam, dass im Kalten Krieg die Sowjetunion und die USA ihre „Entwicklungshilfe“ vielfach nach strategischen Gesichtspunkten vergaben. So meinte 1962 der amerikanische Präsident John F. Kennedy: QAuslandshilfe (…), eine Methode, durch die die Vereinigten Staaten eine Einfluss- und Kontrollposition überall in der Welt aufrechterhalten und zahlreiche Länder unterstützen, die sonst mit Sicherheit zusammenbrechen oder in den kommunistischen Block überwechseln würden. (Zit. nach: Gärtner u. a., Internationales Kräftefeld, 1990, S. 140) Bald zeigte sich, dass sich die Hoffnungen auf Wirtschaftswachstum, soziale Wohlfahrt und Demokratie Entkolonialisierung und Nord-Süd-Konflikt 125 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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