Zeitbilder 7/8, Schülerbuch

10. Freiheits- und Widerstandsbewegungen waren auch Kollektivstrafen wie der Entzug des Essens, das schon im Normalfall nicht ausreichend war. Hermann Lein, der wegen seines Eintretens für die katholische Kirche im KZ Mauthausen in Haft war, berichtet über seinen Alltag als Häftling: QIch musste aus dem Bett, obwohl es noch stockdunkel war. Rasch ordnete ich mein Bett und lief in den Waschraum, um Gesicht und Hände mit eiskaltem Wasser notdürftig zu reinigen. Eilig präparierte ich meine schweren Arbeitsschuhe mit stinkendem Tran und stellte mich zur Ausgabe des Kaffees an. Dieses Getränk hatte mit Kaffee nichts zu tun (…). Leider hatte ich am Vortag meinen Hunger nicht bezähmen können. So blieb mir für dieses „Frühstück“ nicht ein Bissen Brot. Das schwarze Getränk schuf bloß die Einbildung eines vollen Magens. Wir hatten heute immerhin Glück, denn kein SS-Dienstgrad beunruhigte uns durch sein Geschrei, seine Schläge und Fußtritte. Langsam hellte sich der Himmel auf, und wir marschierten zum Appellplatz. Wir stellten uns in Zehnerreihen auf, um leichter gezählt zu werden. Heute hatte ich Glück, denn es gelang mir, einen Platz in der Mitte der angetretenen Häftlinge zu gewinnen. Ich war dort ein wenig von den anderen Häftlingsleibern vor dem eisigen Wind geschützt. „Mützen ab“ – ein SS-Dienstgrad meldete dem Lagerführer die Zahl der Schutzhäftlinge – „Mützen auf“ – „Abrücken“. Die Arbeitskommandos stellten sich zu Gruppen zusammen. Mir blieb noch das Privileg einer leichteren Arbeit versagt, ich musste in den Steinbruch. Von bewaffneter SS bewacht, verließen wir nun in Fünferreihen das Lager. Knapp vor der Stiege, die in den Steinbruch führt, lief plötzlich ein Häftling aus der Reihe. Der begleitende SS-Dienstgrad griff sofort zur Pistole, steckte sie aber kurz darauf mit einer erleichterten Geste in die Tasche zurück. Der Häftling war einige Schritte gelaufen, um sich über eine Felswand hinunterzustürzen. Er hatte die Qualen des Lagers nicht mehr ertragen und seinem Leben ein Ende gemacht. Die Arbeit im Steinbruch erwies sich oft als sinnlos (…). Heute bekamen wir die Aufgabe, Steinblöcke von einem Ende des Steinbruches zum anderen zu tragen (…). Der Mittagseintopf war für mich heute eine traurige Angelegenheit: nur Suppenwasser, wenig Steckrüben, keine Fleischbröckchen. Der Tag dehnte und dehnte sich und schien kein Ende zu nehmen (…). Endlich ertönte der Pfiff zum Antreten. Jeder schulterte einen nicht zu kleinen Steinbrocken und stieg mit einiger Anstrengung die 186 Stufen zum Lager hinauf. Wieder Zählappell! Dann konnten wir in die Baracken gehen. Da hatte ich wieder Glück! Mein Kamerad Hans Eis genoss das Privileg, im Revier zu arbeiten. Er brachte mir ein zusätzliches Stück Brot. Dann suchte ich die grausame Wirklichkeit im Schlaf zu vergessen (…). (Beitrag des ehemaligen Zeitbilder-Autors Hermann Lein) Formen des Widerstandes Der österreichische Historiker Gerhard Jagschitz unterscheidet fünf Typen von Widerstand: –– Unpolitische Gegnerschaft: Unmutsäußerungen z.B. über die wirtschaftlichen Mangelerscheinungen. ––Politisch motivierte Gegnerschaft: (passive) Abwehrhaltung gegen das System aus religiöser oder politischer Überzeugung, z. B. das verbotene Abhören ausländischer Rundfunksender oder die Weitergabe unzensierter Informationen. ––Ziviler Widerstand: aktive Widerstandshandlungen von Einzelpersonen im unmittelbaren Arbeits- oder Lebensbereich. Damit sollten das System des Nationalsozialismus mit seinen Funktionärinnen und Funktionären sowie die Wirksamkeit der angeordneten Maßnahmen geschwächt werden; dazu zählte u. a. die Weitergabe von „Flüsterwitzen“ und Untergrundinformationen. –– Organisatorisch abgesicherter Widerstand: Untergrundtätigkeit der illegalen politischen Parteien bzw. kirchlicher Gruppen sowie die Arbeit der Emigrantinnen und Emigranten im Ausland gegen das NS-Regime. ––Militärischer Widerstand: Sabotage; Partisanentätigkeit in den besetzten Ländern (in Österreich: vor allem in Kärnten und der Steiermark); Widerstandshandlungen innerhalb der deutschen Wehrmacht. „Schutzhaft“ und Konzentrationslager Für die Nationalsozialisten zählte jede abweichende Gesinnung als Hochverrat. Die Machthaber reagierten darauf mit „Schutzhaft“ in den Gestapo-Gefängnissen, mit Einweisung in Konzentrationslager und auch mit Hinrichtungen. Dennoch leisteten sowohl im Deutschen Reich als auch in allen von deutschen Truppen besetzten Ländern Einzelpersonen oder kleine Gruppen geheimen Widerstand, vor allem Kommunisten, Sozialisten und Katholiken. Als Verhaftungsgrund genügte die Zugehörigkeit zu einer früheren Partei, eine Anzeige oder (falsche) Beschuldigung durch einen NS-Funktionär, manchmal auch nur ein (unbedachtes) kritisches Wort. Im Krieg gehörte auch das Abhören eines ausländischen Radiosenders zu diesen Delikten. Nach einem Verhör durch die Geheime Staatspolizei (Gestapo) wurden Verhaftete ohne Gerichtsverfahren auf unbestimmte Zeit in Konzentrationslager eingeliefert. Diese Konzentrationslager wurden in Selbstverwaltung durch die Häftlinge unter Bewachung der SS-Totenkopfverbände geführt. Offiziell sprach man von einer „Umerziehung im nationalsozialistischen Geist“. In Wahrheit sollte der Widerstandswille der Menschen durch schwerste Arbeit, durch körperliche und seelische Misshandlungen und durch ständige Todesdrohungen gebrochen werden. Jedes Vergehen gegen die überstrenge Lagerordnung wurde mit brutalen Misshandlungen geahndet. Üblich 76 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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