Zeitbilder 7/8, Schülerbuch

Das Verhältnis Sozialpartner und Regierung Bis in die 1990er Jahre war in Österreich der Einfluss der Sozialpartner auf die Politik so stark wie kaum anderswo in Europa. Seit dem Beitritt zur Europäischen Union werden jedoch wesentliche Entscheidungen der Wirtschaftspolitik (z. B. die Agrar-, Wettbewerbs-, Außenhandels-, Währungspolitik) nur noch gemeinsam mit den anderen EU-Mitgliedstaaten getroffen. Zwar sind die österreichischen Sozialpartner auch in den europäischen Verbänden vertreten. Doch können sie dort ihren Einfluss nicht in solchem Ausmaß geltend machen wie im österreichischen Parlament oder in der Bundesregierung. Die ÖVP-FPÖ/BZÖ-Regierungen (zwischen 2000 und 2006) verzichteten weitgehend auf eine Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmer-Verbänden. Trotz dieser zeitweisen Zurückdrängung sind die Verbände weiterhin in vielen Kommissionen, Beiräten und Fonds der staatlichen Verwaltung eingebunden. Sie verwalten die Sozialversicherungsinstitute, sitzen in der Nationalbank, entsenden Vertretungen in die Arbeitsgerichte u.v.m. Im Jahr 2008 wurden die Sozialpartner in ihrer Funktion als „Selbstverwaltungskörper“ (vgl. S. 198) sogar in den Verfassungsrang gehoben (Artikel 120a B-VG). Aktiv sind sie vor allem im Bereich des Arbeitsrechts und der Sozialpolitik. Sie starten Gesetzesinitiativen, nehmen in Begutachtungsverfahren oder als Abgeordnete im Nationalrat direkt Einfluss auf die Gesetzgebung. Verbandfunktionärinnen und -funktionäre sind bis heute in den Präsidien von ÖVP und SPÖ vertreten. Sie haben auch immer wieder Ministerposten eingenommen (z.B. den Posten der Sozialministerin bzw. des Sozialministers häufig von einer ÖGB-Spitzenfunktionärin bzw. einem ÖGB-Spitzenfunktionär, den der Landwirtschaftsministerin bzw. des Landwirtschaftsministers oft aus der Landwirtschaftskammer). Kritik und Anerkennung für die Sozialpartner Der Politologe Emmerich Tálos schätzte 2009 die Sozialpartner so ein: L In den Jahren 2007 bis 2008 ist es zu einem Revival [= Wiederbelebung] gekommen. Die Sozialpartnerverbände haben in vielen Bereichen Kompromisse gefunden. Und die Regierung, der ja selbst nicht viel eingefallen ist, hat dieses sozialpartnerschaftliche Zutun auch unbedingt notwendig gehabt. Revival heißt aber nicht eine Wiederkehr der Hochblüte der Sozialpartnerschaft der 1960er und 1970er Jahre (…). Die österreichische Gewerkschaftsbewegung hat durch die Einbindung in die Sozialpartnerschaft sehr viel zum Ausbau der Sozialpolitik, zur Gestaltung der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik beigetragen und damit die Lebens- und Arbeitsbedingungen der unselbständig Beschäftigten wesentlich positiv mitgestaltet. Allerdings konnten auch die Unternehmerorganisationen über den Weg der sozialpartnerschaftlichen Verhandlungen ihre Ziele ganz anders realisieren als in Italien, wo sie damit rechnen müssen, dass die Gewerkschaften ihre Interessen kämpferischer vertreten. (Tálos, Sozialpartnerschaft ist Eliteherrschaft. Online auf: http://derstandard.at/1231151776063/Interview-mit-Emmerich-TalosSozialpartnerschaft-ist-Eliteherrschaft, 29. 3. 2018) Seit den 1990er Jahren gab es immer wieder Kritik an den Verbänden und manchen ihrer Funktionärinnen und Funktionäre: Bei den öffentlich-rechtlichen Kammern betraf das u. a. die Pflichtmitgliedschaft (mit Pflichtbeiträgen), vereinzelt aber auch hohe Funktionärsgehälter. Beim ÖGB äußern die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Kritik vor allem dann, wenn sie mit den von ihren Gewerkschaften ausgehandelten Lohnabschlüssen nicht zufrieden sind. Dennoch überwiegen noch immer die Zustimmung zur Pflichtmitgliedschaft zu den Kammern und die Zufriedenheit mit den Leistungen der Sozialpartner. Die Tageszeitung „Die Presse“ berichtete am 14. 10. 2014: L Wifo-Studie: Sozialpartner bringen mehr Jobs und höheren Lohn Österreich sei heute eine Erfolgsgeschichte. Dieser Erfolg habe viele Väter und sicher auch eine Mutter: die österreichische Sozialpartnerschaft, schrieb Wi[rtschafts]fo[rschungs]-Chef Karl Aiginger. (…) Nun bestätigt eine von der WKÖ beauftragte Studie (…) das auch schwarz auf weiß. Demnach weisen Länder mit einer hohen Intensität an sozialpartnerschaftlichen Verbänden eine geringere Arbeitslosigkeit und stärkere Reallohn-Steigerungen auf als andere Staaten. (…) Wirtschaftswachstum, Beschäftigung, Kaufkraftsicherung und das Gemeinwohl seien die übergeordneten Ziele, denen sich die Sozialpartnerschaft verschrieben habe – und das werde auch anerkannt. Talos: „Es besteht Konsens zur Wichtigkeit eines Beitrags der Sozialpartner zur Krisenlösung.“ Und: „Am traditionell hohen Vertrauen der Bevölkerung in die Sozialpartnerschaft hat sich nichts geändert.“ (Wifo-Studie Sozialpartner. Online auf: https://diepresse.com/home/ wirtschaft/economist/3888334/WifoStudie_Sozialpartner-bringenmehr-Jobs-und-hoeheren-Lohn, 29. 3. 2018) Vor ihrer Regierungsbeteiligung ab 2017 forderte die FPÖ noch eine Volksabstimmung über die Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft in den Arbeiter- und Wirtschaftskammern. Im Rahmen der Koalitionsregierung einigte man sich mit der ÖVP schließlich auf eine Senkung der damit verbundenen Pflichtmitgliedsbeiträge, der so genannten Kammerumlage. Fragen und Arbeitsaufträge 1. Beschreibe auch mit Hilfe der Homepages die angeführten Arbeitgeber/innen- und Arbeitnehmer/innenverbände näher. 2. Analysiere, welche positiven und negativen Argumente im Autorentext und in den Quellen zur Sozialpartnerschaft angeführt werden. Versuche eine Beurteilung. 3. Führt in der Klasse eine Pro- und Kontra-Debatte über Formen des Arbeitskampfes. Welche Argumente kann man für, welche gegen die Abhaltung von Streiks anführen? Politische und rechtliche Systeme 197 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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