Zeitbilder 7/8, Schülerbuch

Unter der österreichischen „Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft“ versteht man einerseits die Zusammenarbeit der großen wirtschaftlichen Interessenverbände untereinander und andererseits auch ihre Zusammenarbeit mit der Regierung. Schon bald nach Gründung der Zweiten Republik entwickelten sich die Sozialpartner zu einem wichtigen Faktor in der österreichischen Politik (vgl. S. 171). Sie sind bis heute vor allem mit den beiden Parteien ÖVP und SPÖ eng verflochten. Verbände der Arbeitnehmer/innen 1920 wurden die „Kammern für Arbeiter und Angestellte“ eingerichtet: Auch die Arbeiterkammern sind öffentlich-rechtlich, d. h. auf gesetzlicher Grundlage organisiert. Es besteht für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (mit Ausnahme der Beamtinnen und Beamten und den in der Landwirtschaft Beschäftigten) Pflicht zur Mitgliedschaft (2016: ca. 3,7 Millionen). Aufgabe der Arbeiterkammern ist die Vertretung der beruflichen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Interessen ihrer Mitglieder sowie der Konsumentenschutz. Der Österreichische Gewerkschaftsbund wurde 1945 als überparteilicher Verein gegründet (vgl. S. 164). Innerhalb des ÖGB gibt es entsprechend den unterschiedlichen Ideologien jedoch verschiedene Fraktionen. Seit 2010 besteht der zentralistisch geführte ÖGB aus sieben untergeordneten Einzelgewerkschaften. Die Zahl der ÖGB-Mitglieder hat in den letzten Jahrzehnten deutlich abgenommen (1990: 1664841; 2012: 1203441), obwohl die Zahl der Beschäftigten im selben Zeitraum zugenommen hat. Im Jahr 2010 zahlten nur noch knapp 30 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer freiwillig ihren Mitgliedsbeitrag (1 Prozent des Bruttolohnes). Die Gründe für den Mitgliederrückgang sind vielfältig. Sie liegen vor allem in der Zunahme der so genannten atypischen Beschäftigungsverhältnisse (geringfügige oder Teilzeitbeschäftigung, Leih- und Heimarbeit, Werkvertrag), aber auch in der, im Vergleich zu früheren Jahren, höheren Arbeitslosenrate. Arbeitgeberorganisationen 1848 wurden die Handelskammern gegründet. Seit 1993 werden sie „Wirtschaftskammern“ genannt und sind in sieben Sparten gegliedert: Gewerbe und Handwerk, Industrie, Handel, Bank und Versicherung, Transport und Verkehr, Tourismus und Freizeitwirtschaft, Information und Consulting. Auf Bundesebene vertritt die WKO die Interessen ihrer (Stand: 2018: 517477) Mitglieder, auf Landesebene sind es die neun Landeskammern. Alle selbstständig Erwerbstätigen (von Ein-Personen-Unternehmen bis zu Aktiengesellschaften) sind per Gesetz Mitglieder dieser öffentlich-rechtlichen Körperschaften. Bereits zur Zeit der Ersten Republik entstanden in den Bundesländern Landwirtschaftskammern. Sie haben sich mit dem Österreichischen Raiffeisenverband auf Bundesebene zum Verein „Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern Österreichs“ zusammengeschlossen. Gesetzliche Mitglieder sind v. a. alle in der Land- und Forstwirtschaft selbstständig hauptberuflich Erwerbstätigen und alle nebenberuflichen Landwirte (2016: 161 200 Betriebe). Neben den vier offiziellen Sozialpartnern AK, ÖGB, WKO und LK ist die Industriellenvereinigung (IV) eine weitere Interessenvertretung auf Arbeitgeberseite. 80 Prozent der österreichischen Industrieunternehmen sind Mitglieder in diesem freien Verein (ohne Fraktionen). Er vertritt die speziellen Interessen der Industrie und nimmt auch an allen Gesetzwerdungsprozessen teil. Eine Bundesorganisation, neun Landesgruppen und das Brüsseler IVBüro vertreten die Anliegen ihrer aktuell mehr als 4400 Mitgliedsunternehmen in Österreich und auf EU-Ebene. Parteien dominieren auch in den Verbänden Auch in den formal überparteilichen Kammern sind Mitglieder der Parteien bzw. ihrer Vorfeldorganisationen die bestimmenden Akteure. Die Führungsgremien werden durch direkte Wahl aller wahlwerbenden Gruppen gebildet. In den Wirtschafts- und Landwirtschaftskammern dominieren der ÖVP-Wirtschaftsbund bzw. ÖVPBauernbund in allen Bundesländern klar. In den Arbeiterkammern hat die Fraktion Sozialdemokratischer GewerkschafterInnen eine klare Mehrheit – nur in Tirol und Vorarlberg ist die ÖVP-Teilorganisation ÖAAB stärker. Der von der Fraktion Sozialdemokratischer GewerkschafterInnen dominierte ÖGB führt – abgesehen von einzelnen Teilbereichen – bislang noch keine direkten Wahlen durch. Die Stärkeverhältnisse der Fraktionen ergeben sich aus der Umlegung von Betriebsrats- und Personalvertretungswahlen. Die Entwicklung der Sozialpartnerschaft Wirtschaftliche und politische Gründe führten seit 1946 zur Zusammenarbeit der großen Verbände (vgl. S. 171). Damit sollten vor allem wirtschaftliche Stabilität und sozialer Frieden erreicht werden. Im Jahre 1957 wurde aus der fallweisen Zusammenarbeit der vier Sozialpartner eine ständige Einrichtung: die „Paritätische Kommission für Preis- und Lohnfragen“. Sie wurde später um den „Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen“ sowie um den „Unterausschuss für internationale Fragen“ erweitert. Die „Paritätische Kommission“ wurde jedoch seit 1998 nicht mehr einberufen. Sie funktionierte nach den von den Sozialpartnern festgelegten „Spielregeln“. Für alle Beschlüsse war Einstimmigkeit erforderlich. Das zwang die Sozialpartner zum Kompromiss. Der Ausschluss der Öffentlichkeit erlaubte ihnen außerdem, auch unpopuläre Maßnahmen zu beschließen. Die positiven Auswirkungen dieser Zusammenarbeit zeigten sich jahrzehntelang an guten Wirtschaftsdaten sowie Verzicht auf Streiks. 5. Die Sozialpartnerschaft 196 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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