Zeitbilder 7/8, Schülerbuch

Große Koalitionen waren die häufigste und damit die am längsten dauernde Regierungsform der Zweiten Republik. Dieses Kapitel unterstützt dich dabei, Geschichtsdarstellungen, die sich mit Großen Koalitionen beschäftigen, auf ihre Perspektivität, ihre Bewertungen und ihre Intentionen hin zu untersuchen und dabei auch ihren Entstehungszusammenhang mit einzubeziehen. Die erste Periode Großer Koalitionen (1947–1966) 1945 bis 1947 regierte in Österreich eine Konzentrationsregierung von ÖVP, SPÖ und KPÖ. Nach der Währungsreform 1947, die zusammen mit der Inflation vor allem einkommensschwächere Menschen stark belastete, trat der einzige kommunistische Minister aus der Regierung aus. Bis 1966 bildeten nun die beiden Großparteien unter einem ÖVP-Kanzler eine Große Koalition. Wegen der wirtschaftlichen Probleme wurde parallel dazu auch eine verstärkte Zusammenarbeit des „rot“ dominierten Österreichischen Gewerkschaftsbundes mit der „schwarzen“ Bundeswirtschaftskammer vereinbart. Das war der Beginn der bis heute bestehenden Sozialpartnerschaft. Der Historiker Norbert Schausberger fasste 1980 die Wirtschaftsentwicklung dieser Zeit so zusammen: Die neue Koalitionsregierung konnte, begünstigt durch eine weltweite Konjunktur, (…) überraschend schnell die ökonomische Krisensituation in einen bisher in Österreich noch nie da gewesenen Wirtschaftsaufschwung umwandeln, der als „österreichisches Wirtschaftswunder“ in die Geschichte eingegangen ist. (…) So war es in fast 10 Jahren der Zusammenarbeit der beiden großen politischen Lager gelungen, den Staatsnotstand zu beheben und wirtschaftlich und innenpolitisch zu konsolidieren. (Schausberger, Österreich. Der Weg der Republik 1918–1980, 1980, S. 87) Der Historiker Oliver Rathkolb über den Proporz, 2011: Das Problem des Proporzes in den fünfziger und sechziger Jahren war, dass die ursprüngliche wechselseitige Kontrollfunktion einer totalen Machtaufteilung gewichen war. In diesem Sinne ist auch das Wahlergebnis 1966 zu interpretieren, das vor allem im Bereich der Erstwähler und Frauen einen höheren Anteil für die ÖVP erbrachte; sie hatte am glaubwürdigsten signalisiert, aus diesem System ausbrechen zu wollen. (Rathkolb, Die paradoxe Republik, 2011, S. 54) Bruno Kreisky, 1959–1966 Außenminister, über das Ende der Koalition, 1988: Die Große Koalition, die nach der Auffassung vieler ihre Funktion mit dem Staatsvertrag erfüllt hatte, war schon Anfang der sechziger Jahre ins WanM1 M2 M3 4. Die Großen Koalitionen der Zweiten Republik ken geraten. Die eine Regierungspartei trat als Opposition der anderen auf; dies wirkte auf die Menschen unaufrichtig und raubte dem Parlamentarismus seine Glaubwürdigkeit. (Kreisky, Im Strom der Politik, 1988, S. 382) Die zweite Periode Großer Koalitionen (1986–1999) Einen Tag nach der Wahl von Kurt Waldheim zum österreichischen Bundespräsidenten im Jahr 1986 (s. S. 177) trat Fred Sinowatz als Kanzler und wenig später als SPÖ-Parteiobmann zurück. Sein Nachfolger Franz Vranitzky beendete die kleine SPÖ-FPÖKoalition, nachdem Vizekanzler Steger als FPÖ-Obmann auf einem Parteitag gestürzt worden war. Die vorgezogenen Neuwahlen führten, nach einer zwanzigjährigen Pause, zu einer Neuauflage der Großen Koalition. Ausschlaggebend dafür waren große wirtschaftliche Probleme (u. a. Krise der Verstaatlichten Industrie, steigende Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung) sowie die Weigerung Vranitzkys, mit der stärker national ausgerichteten Haider-FPÖ eine Koalition einzugehen. Diese Großen Koalitionen wurden auch in den 1990er Jahren mehrmals fortgesetzt, obwohl beide Regierungsparteien deutlich an Stimmen verloren. Sie endeten im Jahr 2000 damit, dass die nach den Wahlen 1999 nur drittstärkste ÖVP mit der zweitstärksten Partei, der Haider-FPÖ, eine Kleine Koalition einging und ÖVP-Obmann Wolfgang Schüssel dennoch Bundeskanzler wurde. Der Historiker Oliver Rathkolb über die Große Koalition, 2011: Der letzte „große Sprung“ der Großen Koalition: EU-Beitritt 1995 Seit 1986 wurde in einer neuerlichen Großen Koalition unter der Leitung Franz Vranitzkys (SPÖ) – das Außenministerium führte ÖVP-Parteichef und Vizekanzler Alois Mock – eine Neuorientierung der österreichischen Europapolitik begonnen. Obwohl es vor allem innerhalb der SPÖ – und hier besonders bei den sozialdemokratischen Gewerkschafter/innen – Vorbehalte gegen eine zu starke Integration gab, erzielte man 1989 Einigung über den Beitrittsantrag. (Rathkolb, Die paradoxe Republik, 2011, S. 108) Der Historiker Michael Gehler über die hohe Zustimmung der Bevölkerung zur EU, 1997: Die Große Koalition gab sich in dieser historisch wichtigen Entscheidungsfrage nach außen geschlossen und staatstragend. Das Zusammenwirken der Großparteien und die Appelle an das Wahlvolk waren laut Meinungsforschern mitentscheidend: Rund drei Viertel der SPÖ-Anhänger sind der Pro-EULinie ihrer Partei, bei der ÖVP rund zwei Drittel der Parteiführung gefolgt. (Gehler, Der EG-Beitrittsantrag. In: Gehler/Steininger (Hg.), Österreich im 20. Jahrhundert, Bd. 2, 1997, S. 553) M4 M5 194 Kompetenztraining Historische Methodenkompetenz Perspektivität, Intention und Bewertungen in Darstellungen der Vergangenheit feststellen sowie deren Entstehungskontext berücksichtigen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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