So analysierte der Historiker Oliver Rathkolb 2011: L In der ÖVP-FPÖ-Koalition 2000 bis 2006 war „Proporz neu“ angesagt; das heißt, dass vor allem Beamte, die der SPÖ zugerechnet werden, Kompetenzverluste zu gewärtigen haben. In Aufsichtsräten und Vorständen der ÖIAG wurden umfassende Personalwechsel durchgeführt. Zum Unterschied von den 1970er Jahren (…) wurde nun eine starke politische Partei, die SPÖ, deutlich ausgeklammert, (…) unabhängige Manager/innen ohne ÖVP- oder FPÖ-Sympathien werden (…) kaum berücksichtigt. In diesem Zusammenhang spielt die Frage des Parteibuchs weniger eine Rolle als die konkrete ideologische Nähe. (Rathkolb, Die paradoxe Republik, 2011, S. 55) Und noch 2017, knapp vor dem Ende der letzten Großen Koalition, schrieb der deutsche Politikwissenschafter und Österreich-Korrespondent Hans-Peter Siebenhaar: L Das Land benötigt dringend einen Masterplan für das 21. Jahrhundert (…). Österreich sollte außerdem die überkommenen politischen Traditionen der vergangenen Jahre über Bord werfen. Dazu gehört insbesondere die politische Farbenlehre, mit der alle Schaltstellen durch zwei Parteien besetzt werden. Selbst wenn künftig noch eine weitere Partei hinzukommt, wird das das grundsätzliche Problem der Ämtervergabe nach politischem Proporz nicht lösen können, wahrscheinlich sogar nur noch komplizierter machen. (…) Die Rechtspartei [FPÖ] ist mit den bürgerlichen Volksparteien mit ihrem machtpraktischen Anspruch durchaus vergleichbar. Ihr geht es darum, ebenfalls an die Futtertröge des Staates und seiner benachbarten Organisationen zu kommen. Aus dem dualen System (…) wird womöglich in Zukunft ein triales. (Siebenhaar, Österreich. Die zerrissene Republik, 2017, S. 244, 250) Erläutere das Proporzsystem und seine Entwicklung bis heute mit Hilfe der unterschiedlichen Darstellungen. Beurteile die Aussage Siebenhaars über die Entwicklung eines möglichen neuen politischen Proporzes in der Gegenwart. ÖVP und SPÖ – große Mitgliederparteien Während die SPÖ eine zentralistische Organisationsstruktur aufweist, ist die ÖVP in Bünde (Bauern-, Wirtschafts-, Arbeiter- und Angestellten-, Seniorenbund, Frauenbewegung, Junge Volkspartei) gegliedert. Beide Parteien haben eine Fülle von Vorfeldorganisationen bzw. ihnen nahe stehende Vereinigungen (z. B. Bund Sozialistischer Akademiker, Sozialistische Jugend, Kinderfreunde sowie ASKÖ/Arbeitsgemeinschaft für Sport und Körperkultur Österreichs, Naturfreunde bzw. Österreichischer Akademikerbund, Schülerunion sowie Sport-UNION). Beide Parteien weisen im internationalen Vergleich auch heute noch einen überdurchschnittlich hohen Organisationsgrad (= Anteil der Mitglieder an den Wählerstimmen in Prozent) auf. Die Parteimitgliedschaften haben aber in den letzten Jahrzehnten deutlich abgenommen. Die ÖVP hatte im Jahr 2018 nach eigenen Angaben etwa 650 000 Mitglieder (1994: 700 000), die SPÖ etwa 180000 Mitglieder (1990: 590000). Die FPÖ hatte 2018 55000 Mitglieder. Die Parteienkonzentration nimmt stark ab – die „Kleinen“ kommen und gehen … Ein absoluter europäischer Spitzenwert war von 1956 bis 1983 auch die Konzentration der Wählerstimmen auf SPÖ und ÖVP: „Rot“ und „Schwarz“ erhielten zusammen zwischen 89 und 93 Prozent (s. Grafik). Erstmals sank der Stimmenanteil der Großparteien mit dem Einzug der „Grünen Alternative“ in den Nationalrat (1986). SPÖ ÖVP KPÖ WdU FPÖ Grüne LIF BZÖ Liste Frank NEOS Liste Pilz (JETZT) ÖVP SPÖ KPÖ (LB, VO, KuL) Grüne LIF BZÖ NEOS WdU 0 10 20 30 40 50 60 gültige Stimmen in % 1945 1949 1953 1956 1959 1962 1966 1970 1971 1975 1979 1983 1986 1990 1994 1995 1999 2002 2006 2008 2013 2017 2019 FPÖ Nationalratswahlen 1945–2019, Verteilung der gültigen Stimmen (Angaben in Prozent). Politische und rechtliche Systeme 191 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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