2000 wurde erstmals der Kanzlerkandidat der drittstärksten Partei, Wolfgang Schüssel (ÖVP), zum Bundeskanzler einer ÖVP-FPÖ-Koalitionsregierung ernannt, obwohl diese offensichtlich vom damaligen Bundespräsidenten Thomas Klestil nicht erwünscht war. Trotz seiner verfassungsrechtlich garantierten Ernennungsfreiheit musste er diese Koalition akzeptieren. Nach Artikel 70 könnte ein neuer Bundeskanzler bzw. eine neue Bundeskanzlerin alle Ministerinnen und Minister aussuchen. In der politischen Wirklichkeit aber wird er bzw. sie sich bei der Auswahl mit den einflussreichsten Funktionärinnen und Funktionären der eigenen Partei absprechen. Noch weniger Einflussmöglichkeit hat er bzw. sie auf die Auswahl der Regierungsmitglieder bei seinem (möglichen) Koalitionspartner. Alle diese Entscheidungen sind durch die Verfassung nicht geregelt. Bei der Wahl zum Nationalrat Q Artikel 26 (1) Der Nationalrat wird vom Bundesvolk aufgrund des gleichen, unmittelbaren, geheimen und persönlichen Wahlrechts der Männer und Frauen, die spätestens am Tag der Wahl das 16. Lebensjahr vollendet haben, nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt. (…) Wählbar sind alle zum Nationalrat Wahlberechtigten, die am Stichtag die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen und am Wahltag das 18. Lebensjahr vollendet haben. (Bundes-Verfassungsgesetz) Dieser Verfassungsartikel ist offenbar bewusst kurz gehalten. Er lässt völlig offen, wie Wahlberechtigte wirklich Mitglied des Nationalrats werden können. Ebenso lässt er den politischen Parteien freie Hand, auf welche Weise sie zur Aufstellung und Reihung ihrer Kandidatinnen und Kandidaten auf den Nationalratswahllisten gelangen. Recherchiere, wie die Kandidatenlisten der einzelnen Parteien in eurem Bundesland für Gemeinderats-, Landtags- und Nationalratswahlen bzw. für EU-Wahlen erstellt werden. Die Verfassung und ihre vielen Ergänzungen Die österreichische Verfassung besteht nicht nur aus dem „Bundes-Verfassungsgesetz von 1920 in der Fassung von 1929“, sondern auch aus einer Vielzahl anderer Rechtsquellen. Sie reichen teilweise in die Monarchie zurück (z. B. die Grund- und Freiheitsrechte) oder wurden im Laufe der Zweiten Republik beschlossen (z. B. Neutralitäts-, Zivildienst-, Datenschutz-, Umweltschutzgesetz). Dazu kamen immer wieder Änderungen und Ergänzungen (= Novellen). Auch durch den EU-Beitritt wurde eine Novelle notwendig (1994, Bundesgesetzblatt 113). Sie regelt u. a. die Wahlen der österreichischen Abgeordneten zum Europäischen Parlament und die Mitsprache- und Einflussmöglichkeiten des Parlaments, der Länder und der Gemeinden auf die österreichischen Ratsmitglieder. Sie verpflichtet die österreichische Bundesregierung zur umfassenden Information des Parlaments über die EU-Politik. In der Praxis sind das durchschnittlich 20 000 Dokumente pro Jahr. Stufenbau der Rechtsordnung Stufenaufbau der Rechtsordnung Leitende Prinzipien (Grundprinzipien) der Bundesverfassung Nationalrat Voraussetzung für das Zustandekommen 1/ 2 Anwesenheit, 2/ 3 Zustimmung, Volksabstimmung Primäres Gemeinschaftsrecht Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften samt Anhängen und Protokollen sowie deren späteren Ergänzungen und Änderungen Sekundäres Gemeinschaftsrecht das von den Organen der Europäischen Gemeinschaften nach Maßgabe der Gründungsverträge erlassene Recht wie insbesondere Verordnungen und Richtlinien „Einfaches“ Bundesverfassungsrecht Nationalrat Voraussetzung für das Zustandekommen 1/ 2 Anwesenheit, 2/ 3 Zustimmung Bundesgesetz Nationalrat Voraussetzung für das Zustandekommen 1/ 3 Anwesenheit, unbedingte Mehrheit Verordnung Verwaltungsbehörde Bescheid, Urteil Verwaltungsbehörde, Gericht Hier kann es zur zwangsweisen Durchsetzung (Exekution) kommen (Vollstreckungsakte). Landesverfassungsrecht Landtag Voraussetzung für das Zustandekommen 1/ 2 Anwesenheit, 2/ 3 Zustimmung Landesgesetz Landtag Hrncir/Urbanek, Materialpaket Politische Bildung, 2002, S. 3. Keine Einigung auf eine neue Verfassung Die Reformbedürftigkeit der österreichischen Verfassung führte zur Bildung des „Österreich-Konvents“. Dieser setzte sich aus Vertreterinnen und Vertretern der verschiedenen politischen Körperschaften sowie Expertinnen und Experten zusammen. Sein Ziel war, Vorschläge für eine grundlegende Staats- und Verfassungsreform auszuarbeiten, die Verfassung also neu zu formulieren. Der im Jahr 2005 vorgelegte Verfassungsentwurf erhielt jedoch keine Mehrheit im Parlament. Zu unterschiedlich waren die politischen Standpunkte bei vielen Themenbereichen (z. B. stärkere Kontrollrechte für das Parlament, verpflichtende Volksabstimmung nach erfolgreichen Volksbegehren), vor allem aber auch bei der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern. Fragen und Arbeitsaufträge 1. Fasse die Grundprinzipien der österreichischen Bundesverfassung zusammen. 2. Erkläre den Unterschied zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit am Beispiel der Gesetzgebung und der Regierungsbildung. Politische und rechtliche Systeme 189 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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