Was die „Verfassung“ regelt Der Rechtsexperte Hans Kelsen, der 1919 mit der Ausarbeitung der österreichischen Bundesverfassung beauftragt wurde, sieht die Verfassung als die rechtliche Basis des Staates an: Q Wie immer man den Begriff der Verfassung definiert hat, stets tritt er mit dem Anspruch auf, das Fundament des Staates zu begreifen, auf dem sich die übrige Ordnung aufbaut. (Zit. nach: Gerlich/Müller, Grundzüge des politischen Systems Österreichs, 1988, S. 25) Das bedeutet: Die österreichische Verfassung bzw. die Bundes-Verfassungsgesetze bilden die rechtliche Grundordnung unseres Staates. In ihr sind festgelegt: –– die Staatsform (Republik), –– die Struktur des Staates (Bundesstaat), –– die Bestellung und Aufgaben der Staatsorgane sowie die Festlegung des Regierungssystems, ––Organisation, Wirkungskreis und Verfahrensgrundsätze der Staatsgewalten (Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung), –– die Grundrechte. Im hierarchischen System der österreichischen Rechtsordnung nimmt das Verfassungsrecht den höchsten Rang ein. Verfassungsgesetze können nur mit einer Zweidrittelmehrheit bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte aller Abgeordneten beschlossen werden. EU-Recht hat Vorrang vor nationalem Recht Seit dem Beitritt zur Europäische Union gelten in Österreich zwei Rechtsordnungen. Dabei hat das EU-Recht Vorrang vor dem nationalen Recht und der Europäische Gerichtshof ist die höchste Rechtsprechungsinstanz. Österreichisches Recht muss auf jeder Stufe mit dem „Gemeinschaftsrecht“ vereinbar sein. Das bedeutet einerseits, dass EU-Richtlinien und Verordnungen in nationales Recht umgesetzt werden, und andererseits, dass nationale Gesetze den EU-Richtlinien und Verordnungen entsprechen müssen. Über dem EU-Recht stehen jedoch die „Grundprinzipien der Bundesverfassung“ (vgl. Grafik S. 189). Die Grundprinzipien der Bundesverfassung Die Grundprinzipien unserer Verfassung genießen als „Baugesetze“ unserer Staatsordnung besonderen Schutz: Will man sie ändern oder beseitigen, kommt das einer Gesamtänderung der Bundesverfassung (und damit unserer Staatsordnung) gleich und bedarf einer Volksabstimmung – wie das mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union der Fall war. Die Prinzipien der Bundesverfassung lauten (alle auf S. 187 bis 189 angeführten Quellen aus dem BundesVerfassungsgesetz werden zitiert nach: https://www.ris. bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000138, 12. 12. 2018): Das republikanische Prinzip Q Artikel 1 Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus. (Bundes-Verfassungsgesetz) Entsprechend diesem Prinzip steht an der Spitze des Staates ein auf eine begrenzte Amtszeit gewählter und dem Volk gegenüber politisch verantwortlicher Bundespräsident (im Gegensatz zu einem durch Erbfolge legitimierten Monarchen mit unbegrenzter Amtsdauer). Der Bundespräsident kann nur durch eine Volksabstimmung, welche die Bundesversammlung (Nationalrat und Bundesrat) verlangen muss, abgesetzt werden. Durch die Verfassungsnovelle 1929 wurde die Stellung des Bundespräsidenten gestärkt. Seither wird er nicht mehr durch die Bundesversammlung, sondern direkt durch das Volk für eine Amtszeit von sechs Jahren gewählt. Der Bundespräsident vertritt offiziell den Staat nach außen, ernennt und entlässt die Bundesregierung, hat den Oberbefehl über das Bundesheer, beurkundet die Bundesgesetze, kann Verurteilte begnadigen und gerichtliche Verfahren niederschlagen (s. vor allem Art. 60–69 B-VG). Das demokratische Prinzip Es ist neben der grundsätzlichen Bestimmung des Artikel 1 (s. oben) auch in vielen anderen Verfassungsbestimmungen sichtbar, wie z.B.: Q Artikel 26 (1) Der Nationalrat wird vom Bundesvolk (…) nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt. (…) Artikel 43 Einer Volksabstimmung ist jeder Gesetzesbeschluss des Nationalrates (…) zu unterziehen, wenn der Nationalrat es beschließt oder die Mehrheit der Mitglieder des Nationalrates es verlangt. (…) Artikel 91 (1) Das Volk hat an der Rechtsprechung mitzuwirken. (Bundes-Verfassungsgesetz) Die demokratischen Rechte der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sind vielfältig. Sie wählen den Bundespräsidenten, das Europäische Parlament, den Nationalrat, die Landtage, die Gemeinderäte und z. T. auch direkt die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. In Volksabstimmungen entscheiden sie, ob ein vorgeschlagenes Gesetz in Kraft treten soll oder nicht. Ein erfolgreich durchgeführtes Volksbegehren zwingt die Volksvertreterinnen und Volksvertreter, sich im Nationalrat damit auseinanderzusetzen. Als Laienrichterinnen und Laienrichter müssen ausgewählte Bürgerinnen und Bürger auch an der Rechtsprechung (als Schöffinnen und Schöffen sowie als Geschworene) mitwirken. 2. Die Bundesverfassung – das Fundament des Staates Politische und rechtliche Systeme 187 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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