1. Das Ende kolonialer Herrschaft 1.1 Unabhängigkeitsbewegungen in Asien Indien – „Freiheit um Mitternacht“ Die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stand in Asien und Afrika im Zeichen der Entkolonisierung. Schon im 19. Jh. bestanden in Indien Bestrebungen nach Unabhängigkeit. Nach dem Ersten Weltkrieg übertrug die britische Kolonialmacht immer mehr Verwaltungsaufgaben in die Hände von Indern. Sie hoffte damit, die Forderungen nach voller Unabhängigkeit abwehren zu können. Doch die Unabhängigkeitsbewegungen ließen sich nicht mehr von ihrem Ziel abbringen. Eine entscheidende Rolle spielte hierbei Mahatma Gandhi. Er vertraute auf die Wirksamkeit gewaltlosen Widerstandes und zivilen Ungehorsams (Demonstrationen, Boykott britischer Waren, Verweigerung von Steuern und der Zusammenarbeit mit den Kolonialbehörden, Hungerstreik). Die Zahl jener, die sich Gandhi anschlossen, wuchs rasch. Indiens Unabhängigkeitsbewegung war allerdings zwischen Hindus und Muslimen gespalten. Die Muslime befürchteten, in einem unabhängigen Indien von der Hindu-Mehrheit an den Rand gedrängt zu werden. Viele von ihnen waren zudem Großgrundbesitzer. Sie hatten Angst vor einer Landreform. So entstand unter den Muslimen der Plan, Indien zu teilen und einen eigenen Staat Pakistan zu errichten, in dem Musliminnen und Muslime die Mehrheit stellen würden. Die britische Regierung bestand aber darauf, dass Hindus und Muslime gemeinsam eine neue Verfassung entwerfen sollten. Statt einer Zusammenarbeit folgten schwere Unruhen. Dennoch beschloss das britische Parlament, Indien mit 15. August 1947 für unabhängig zu erklären. Über die Versammlung im Parlament von Delhi, die in der Nacht vom 14. auf den 15. August 1947 auf den Beginn der Unabhängigkeit wartete, schreiben der Historiker Rothermund und die Sachbuchautoren Collins und Lapierre: L Bei der mitternächtlichen Parlamentssitzung, in der die Erlangung der Unabhängigkeit gefeiert wurde, waren die indischen Abgeordneten unter sich. Es war Nehrus große Stunde. (…) Es war eine Stunde langgehegter Hoffnungen, doch die Freude wurde durch die Teilung des Landes getrübt. Mahatma Gandhi (…) sah keinen Grund zum Feiern. Er war durch die Teilung zutiefst betroffen. Während man in der Hauptstadt die Freiheit willkommen hieß, widmete sich Gandhi der Erhaltung des Friedens zwischen Hindus und Muslims in Bengali. (Rothermund, Delhi: 15. August 1947. Das Ende kolonialer Herrschaft, 1998, S. 10) L Das Indien, das diese Männer und Frauen vertraten, würde in wenigen Minuten zu einer Nation werden, die 275 Millionen Hindus (davon 70 Millionen Unberührbare), 50 Millionen Moslems, 7 Millionen Christen, 6 Millionen Sikhs (…) umschloss. Nur wenige in der Halle konnten sich in ihrer Muttersprache verständigen, sie waren auf das Englische angewiesen. In ihrem Staat würde es 15 offizielle Sprachen und 845 Dialekte geben. Dieses Indien beherbergte ein Heer von Bettlern; 15 Millionen Sadhus, heilige Männer; 20 Millionen Nachkommen der Ureinwohner. 10 Millionen Inder waren nicht sesshaft (…). Jeden Tag wurden 38 000 Inder geboren, von denen die Hälfte nicht fünf Jahre alt wurde. (…) (Collins/Lapierre, Um Mitternacht die Freiheit, 1978, S. 265 ff.) Nach der Unabhängigkeit führte der Gegensatz zwischen Hindus und Muslimen zur Bildung zweier Staaten: Indien und Pakistan. Besonders in den gemischt besiedelten Gebieten kam es immer wieder zu Gewalttaten mit mindestens einer Million Toten. Riesige Umsiedlungen setzten ein. Muslime flohen nach Pakistan, Hindus und Sikhs nach Indien. 1971 zerfiel Pakistan, das in die weit voneinander entfernt liegenden Teile Ost- und Westpakistan geteilt war: Die bengalische Mehrheit in Ostpakistan errichtete einen eigenen Staat Bangladesch. Im Süden des Subkontinents schuf eine Unabhängigkeitsbewegung 1948 auf Ceylon einen eigenen Staat (Sri Lanka). Schon seit 1947 streiten Indien und Pakistan, inzwischen zu Atommächten geworden, um das strategisch bedeutsame Berggebiet Kaschmir. Die beiden Staaten führten bislang vier Kriege (1947 – 1949; 1965; 1971; 1999), um dort die Vorherrschaft zu gewinnen. 1962 kämpften Indien und China um ein Grenzgebiet im Nordosten, welches China kontrolliert. Nach wie vor ist der Friede in dieser Region äußerst gefährdet. Mahatma Gandhi (1869 – 1948) beim Spinnen. Foto, aufgenommen im Sabarmati Ashram (= Meditationszentrum) in Ahmedabad, 1925. Ghandi setzte sich mit dem Spinnrad als Symbol für die Förderung der heimischen Gewerbe ein, die unter der Einfuhr britischer Industrieerzeugnisse litten. Er wurde von einem fanatischen Hindu ermordet. 106 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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