Zeitbilder 6, Schulbuch

Der deutsche Historiker Horst Gründer schreibt über den Imperialismus Großbritanniens: Als das imperialistische Zeitalter in Europa an- brach, konnte Großbritannien auf einen langen Expansionsprozess zurückblicken, der zu einem weit- läufigen Überseeimperium geführt hatte. […] Die Wende zu einer britischen imperialistischen Politik bahnte sich mit dem Programm des konservativen Staatsmanns Benjamin Disraeli an. […] In seiner be- rühmten Londoner „Kristallpalastrede“ vom 24. Juni 1872 (befürwortete) er nicht nur ein „Zusammen- rücken des Empire“, sondern auch Maßnahmen zu dessen Erhaltung und Erweiterung. Disraeli stand da- bei nicht nur unter dem Eindruck einer veränderten politischen Situation in Europa, bedingt durch die deutsche und italienische Einigung sowie Deutsch- lands Sieg über Frankreich 1870/71, sondern suchte auch nach Möglichkeiten, die wirtschaftliche Stagna- tion in Großbritannien zu überwinden. Vor allem aber ging es ihm um die Sicherung Indiens. […] 1875 er- warb er daher mit dem Blick auf die Verbindung nach Indien für Großbritannien Suezkanalaktien in Höhe von vier Millionen Pfund. […] Nach dem Verlust der amerikanischen Kolonien rückte Indien zur wich- tigsten und reichsten britischen Kolonie auf, die zu erhalten und zu sichern die britische Außenpolitik vorrangig bestrebt war. (Gründer, Herrscher der Meere: Großbritannien und sein Kolonialreich. In: Die Zeit. Welt- und Kulturgeschichte Bd. 12: Zeitalter des Nationa- lismus, 2006, S. 438–440) Der Historiker Reinhardt Wendt charakterisiert die Rolle der Missionen und Orden im Imperialismus: Im Rahmen formeller Kolonialherrschaft übernah- men Orden und Missionsgesellschaften in Asien und Afrika eine Reihe von Aufgaben, die die Verwal- tungen entlasteten und gleichzeitig das von ihnen kontrollierte System stabilisierten. Dazu gehörten be- sonders Tätigkeiten im Schulwesen, im Bereich der Sozialfürsorge und im Gesundheitssystem. Eine medi- zinische Versorgung einzurichten, Krankenhäuser für die einheimische Bevölkerung zu unterhalten und Heime für Waisenkinder aufzubauen, wurde ein wich- tiges Merkmal evangelisatorischer Tätigkeit, da sich auch durch derartige soziale Dienste Interesse für das Christentum wecken ließ. Zu solchen indirekten Mis- sionsmethoden gehörte wesentlich der Aufbau ver- schiedener Bildungseinrichtungen. […] Fernziel war sicherlich die Verbreitung der christlichen Lehre. Doch wurde in einigen dieser Einrichtungen nicht ein- mal Religionsunterricht erteilt. Konkret ging es bei- M4 M5 spielsweise darum, praktische und berufsorientierte Fähigkeiten zu vermitteln oder auch Wissensgrundla- ge für einen Eintritt in den kolonialen Verwaltungs- dienst zu legen. Bahnbrechende Neuerung war der Aufbau von Schulen für Mädchen, für die in China und Indien keine formalisierten Unterrichtsmöglich- keiten bestanden. Im Bereich der weiblichen Ausbil- dung kam den Ehefrauen der protestantischen Missio- nare ein entscheidender Part zu. (Wendt, Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Europa und die Welt seit 1500, 2007, S. 241–242) Der Publizist Frank Böckelmann zum Aufeinander- treffen von Wert- und Kulturvorstellungen: In der frühen Kolonialzeit erregte es Argwohn, dass der Weiße seine Füße „in Pakete einpackte“, so dass die Zehen nicht sichtbar waren, und am gan- zen Körper Kleidung trug. Verhüllung verriet einen bösen Geist. […] Gerüchte besagten, dass Gewaltta- ten gegen Weiße üble Folgen hatten. Beleidigte Weiße konnten Tod und Krankheit verhängen oder den Re- gen zurückhalten. […] Und noch am Ende der Kolo- nialzeit hielten es Priester afrikanischer Kulte für rat- sam, jeden Europäer, der gerade anwesend war, ein- zeln zu ehren. „Wenn ich vier oder fünf Europäer sehe, so werde ich mich nicht mit einem allein befas- sen und die anderen ignorieren, denn auch sie könn- ten Macht besitzen und mich hassen“, äußerte ein Priester der Ashanti (im heutigen Ghana). (Böckelmann, Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen, 1998, S. 373–374) Fragen und Arbeitsaufträge 1. Arbeite anhand der Darstellungen in M3 und M5 die wesent- lichen Unterschiede zwischen „direkter“ und „indirekter“ sowie „formeller“ und „informeller“ Herrschaft heraus. 2. Analysiere die Materialien M1, M2, M4 und M6 daraufhin, welche Folgen und verschiedenen Sichtweisen mit imperia- listischer Expansion in Zusammenhang gebracht werden können. Erläutere am Beispiel eines in den Medien behan- delten aktuellen Ereignisses deine Einsichten zum politi- schen Handeln der Großmächte. 3. Nimm dazu Stellung, auf welche Weise imperialistische Herrschaftsformen (M3) mit traditionellen Wert- und Kultur- vorstellungen der einheimischen Bevölkerung (M5, M6) in Konflikt geraten (M6), aber auch moderne Entwicklungen zu fördern vermögen (M5). 4. Beurteile und diskutiere, ob imperialistische Politik auch moderne Entwicklungen (z. B. Bildungssysteme) zu fördern vermochte (M5). M6 Expansion – vom Kolonialismus zum Imperialismus 83 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=