Zeitbilder 6, Schulbuch

Die Materialien in diesem Kapitel dienen dazu, die Historische Orientierungskompetenz (weiter-) zu entwickeln. Anhand des Themas „Imperialismus“ gewonnene historische Einsichten sol- len es ermöglichen, Diskussionen zu führen: über grundlegende Herrschaftsformen und Aspekte des Imperialismus sowie über die Einnahme bestimmter Standpunkte für die Sichtweise (Rechtfertigung, Auftrag, Zielsetzung, Folgen) von imperialer Politik. Auch die Politische Urteilskompetenz wird weiterentwickelt: Die Erkenntnisse können für die Bildung eigener Urteile über gegen- wärtige politische Bestrebungen der Großmächte genützt und diese Urteile auch als standpunktbezogen erkannt werden. Grafik: Bevölkerungsentwicklung im Kolonialzeitalter 500 1000 1500 1760 1830 1880 1913 2000 Weltbevölkerung in den Kolonien Bevölkerung in Mio. 0 Im Laufe des 19. Jh. wurden immer größere Teile der Welt in die in- ternationalen Produktions- und Handelsnetze der europäischen Kolo- nialreiche eingebunden. Um 1760 waren erst 27 Millionen Menschen der direkten Herrschaft Europas unterworfen, 1830 war diese Zahl bereits auf 205 Millionen gestiegen, 1880 auf 312 Millionen und 1913, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, auf 554 Millionen. In der Grafik ist auch die Bevölkerung jener Länder mitberücksichtigt (ca. 500 Mio. Menschen), die offiziell unabhängig waren, aber von den imperialistischen Mächten kontrolliert wurden (z. B. China, Ägypten). (Basierend auf: Atlas der Globalisierung. Das 20. Jahrhundert, Berlin 2011, S. 6.) Der Imperialismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterwarf vor allem auch den afrikanischen Kontinent: Noch 1850 waren – aus europäischer Sicht – mehr als drei Viertel der Fläche Afrikas unerforscht. 1885 hatten die Europäer erst etwa fünfundzwanzig Prozent dieses Kontinents in Besitz genommen. Dann beschleunigte sich die Aufteilung des „afrikanischen M1 M2 8. Der Imperialismus Kuchens“ rapide: Die Positionskämpfe der rivalisie- renden Staaten in Europa griffen auf Afrika über und machten jeden Punkt auf der Landkarte zum Zankapfel. Als letzte sicherten sich Deutschland und Italien ihren Anteil. 1912 standen fünfundneunzig Prozent Afrikas unter europäischer Kuratel. In Westafrika […] kontrollierten Großbritannien und Frankreich zunächst nur einige Häfen und Stützpunk- te auf küstennahen Inseln. Erst nach 1890 stießen ihre Expeditionskorps ins Hinterland vor und brachen den Widerstand afrikanischer Militärbündnisse. Die Gren- zen wurden am grünen Tisch gezogen. (Böckelmann, Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen, 1998, S. 372) Der Historiker Reinhardt Wendt charakterisiert grundlegende Herrschaftsformen im Imperialismus: Hinsichtlich der kolonialen Herrschaft wird oft zwischen „direct“ und „indirect rule“ unterschie- den. Dabei handelt es sich um Idealtypen, die sich nicht gegensätzlich gegenüberstanden, sondern gra- duell abgestuft ineinander übergehen konnten: Frankreich und Portugal gelten als die Kolonial- mächte, die eher dem Prinzip der „direct rule“ folg- ten […]. In den afrikanischen Besitzungen Portugals waren es bis in die untersten Ränge der Administra- tion hinein Beamte aus dem Mutterland, die die Pos- ten bekleideten. Erst auf Dorfebene konnte die ein- heimische Elite Mitspracherechte wahrnehmen. Im französisch kontrollierten Vietnam verhielt es sich ähnlich. „Indirect rule“ bestand darin, einheimische Eliten in die koloniale Verwaltung einzubinden und traditio- nelle Strukturen beizubehalten, soweit es ratsam und nützlich erschien. […] Die Briten folgten in Indien (dieser Praxis). Unter der obersten Ebene von Justiz und Verwaltung waren es indische Beamte, Polizisten und Soldaten, die das System im Lande aufrechter- hielten. Am sichtbarsten war die „indirect rule“ in den Fürstenstaaten, die sich zwar außenwirtschafts- politisch nach den kolonialen Vorgaben zu richten hatten, aber etwa im Rechtswesen eigenen Traditio- nen folgen konnten. […]. Vielfach wurde die imperiale Herrschaft auch „infor- mell“ ausgeübt. Hierbei spielten vor allem auch die USA eine wesentliche Rolle: Nach und nach über- nahmen […] die USA die vorherrschende Stellung vor Großbritannien. Die zahlreichen Interventionen, mit denen sie im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert im gesamten Süden des (amerikani- schen) Kontinents eingriffen, machen das klar. Die asymmetrischen Beziehungen, die sich seit 1898 mit dem nominell unabhängigen Kuba entwickelten, sind ein Musterbeispiel für „informal empire“. Die USA konnten auf der Insel ihre ökonomischen Inter- essen verwirklichen, ohne direkte Herrschaft aus- üben zu müssen. (Wendt, Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Europa und die Welt seit 1500, 2007, S. 236, 262–263) M3 82 Kompetenztraining Historische Orientierungskompetenz Offene und pluralistische Diskussion zur Nutzung der historischen Erkenntnisse für die Gegenwart und Zukunft führen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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