Zeitbilder 6, Schulbuch

Politische Urteilskompetenz beinhaltet die Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft zu einer selbstständigen, begründeten Beurtei- lung politischer Entscheidungen, Probleme und Auseinanderset- zungen. Notwendige Teilkompetenzen dafür sind u. a. die Quali- tätsprüfung der politischen Urteile. Zudem sollten politische Urteile sowohl in Hinblick auf ihre Interessen- und Standortbe- stimmtheit als auch auf ihre Folgen und Auswirkungen reflek- tiert werden. Nicht nur die politischen Urteile der anderen, son- dern auch die eigenen müssen einer derart kritischen Analyse und Reflexion unterzogen werden. In diesem Kapitel kannst du Politische Urteilskompetenz am Beispiel des Themas „Piraterie – einst und heute“ trainieren. Piraterie im historischen Vergleich Unter Piraterie oder Seeräuberei versteht man Gewalttaten, die auf hoher See verübt werden. Piraten gibt es seit mindestens 5000 Jahren. Nach der „Entdeckung“ Amerikas nahm die Pira- terie einen Aufschwung: Spanien und Portugal teilten die „Neue Welt“ im Vertrag von Tordesillas 1494 unter sich auf. Frankreich, die Niederlande und England wollten jedoch auch ihren Anteil an den Schätzen Amerikas – an Gebieten, Rohstof- fen sowie Sklavinnen und Sklaven. Sie rüsteten daher Schiffe aus und schickten ihre „Freibeuter“ auf die Weltmeere. Freibeuter waren Piraten, die mit dem Einverständnis ihrer Landesherren Beutezüge unternahmen. Dies geschah jedoch nur inoffiziell und geheim. Spanien und Portugal sollte damit geschadet werden, ohne jedoch diesen Ländern den Krieg erklären zu müssen. Der berühmteste englische Seefahrer und Freibeuter war Francis Drake. Er kaperte spanische Schatzschiffe und überfiel Städte in den spanischen Kolonien Amerikas, besonders in der Karibik. Finanziert wurden seine teuren Unternehmen von reichen Adeli- gen und Bürgern, vor allem auch von Königin Elisabeth I. Diese Investoren teilten sich die oft reiche Beute, Drake und seine Be- satzung erhielten einen Anteil. Die von der Krone geförderten Kaperfahrten sorgten für 10–15% der auswärtigen Einnahmen Englands. Am Ende des 16. Jh. war England zur Seemacht auf- gestiegen. Freibeuter wie Drake hatten ihren Anteil daran. Piraterie gibt es heute noch, vor allem in politisch instabilen Re- gionen. In die Schlagzeilen gerieten in den letzten Jahren vor al- lem Piraten-Überfälle und Geiselnahmen vor der somalischen Küste in Ostafrika. Über Piraterie im 16. und 17. Jh.: Drake profitierte vom Freibeuterwesen, das im 16. und 17. Jahrhundert seine Blütezeit erlebte. In dieser Zeit wuchs die Zahl der Matrosen extrem. Die Gründe dafür waren ein hohes Bevölkerungs- wachstum, große Arbeitslosigkeit und soziale Not. Der harte Dienst auf den Schiffen ließ vielen Matro- sen die Piraterie als eine erwägenswerte Alternative erscheinen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Der Seeraub wurde einerseits von Rivalen europäi- scher Mächte und andererseits von Gewinnspekulati- onen der Investoren begünstigt. […] Nachdem Spa- nien 1670 die Besitzrechte Englands in Amerika an- M1 4. Piraten – einst und heute erkannt hatte, geriet die Seeräuberei unter Druck. Die Europäer verstärkten ihre Bemühungen, die Pira- terie einzudämmen: einerseits durch das Angebot von Generalamnestien für Piraten, andererseits durch massive Verfolgung. (Neumann, Lebenslauf des Francis Drake, in: Geschichte lernen, 138, Nov. 2010, S. 25) Der Journalist Tobias Micke im Artikel „Das Geschäft mit den Seeräubern“ im Boulevardblatt „Krone bunt“: „Wenn Sie von Piraten attackiert werden, bitte rufen Sie eine dieser Nummern an. Nennen Sie den Schiffsnamen, die Position und die Art des An- griffs.“ – Nicht nur die NATO hat mittlerweile eine eigene Homepage eingerichtet, auf der sich Kapitäne und Schiffseigner routinemäßig über die Gefahrensi- tuation am Horn von Afrika informieren können. Alle drei bis vier Tage – so ist dort einzusehen – star- ten Freibeuter im Golf von Aden oder weiter südlich vor der Küste Kenias […] einen Angriff auf Handels- schiffe. Im ersten Halbjahr 2010 wurden erfolgreich 27 Schiffe verschleppt und dabei 544 Geiseln genom- men. Piraterie ist gut organisierter Alltag geworden. Zwischen ein und fünf Millionen Dollar Lösegeld lukrieren die Entführer bei einer erfolgreichen Schiffskaperung, schätzt das deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in einer aktuellen Studie über den „Wirtschaftszweig Piraterie“. Für jedes Banden- mitglied fallen demnach im Schnitt 10 000 bis 15 000 US-Dollar ab. Kein Wunder, dass „Pirat werden“ in einem Land, in dem das jährliche Pro-Kopf-Einkom- men bei knapp 300 Dollar liegt und die Lebenserwar- tung unter 50, von vielen jungen Männern aus Man- gel an Alternativen als Traumjob gesehen wird. Rund um die Piraterie ist inzwischen eine gut funktionie- rende Infrastruktur gewachsen […]. Seit in Somalia 1991 die Militärdiktatur von Siad Bar- re gestürzt wurde, befindet sich das Land im Bürger- krieg. Die Hauptstadt Mogadischu liegt größtenteils in Schutt und Asche […]. Dieses zentrale Machtvakuum ohne funktionierende Küstenwache nützten Geschäftemacher, um Giftmüll in somalischen Hoheitsgewässern loszuwerden. Aus- ländische Fangflotten betreiben zudem in großem Stil Raubfischerei vor der Küste, sodass den somalischen Fischern die Lebensgrundlage entzogen wurde. […] Solange die Industrieländer in der „Piratennation“ Somalia nur einen […] Actionthriller […] sehen, wird das Problem nicht gelöst werden. Andrew Mwangura [ein Piraten-Geiselverhandler; Anm. d. A.]: „Landwirtschaft und Fischerei müssten wiederbelebt werden.“ Letzteres geht nur mit einer schlagkräftigen (internationalen) Küstenwache. (Micke, Das Geschäft mit den Seeräubern, in: Krone bunt, 5.9. 2010) M2 72 Kompetenztraining Politische Urteilskompetenz Eigene und fremde Urteile und Teilurteile auf ihre Begründung und Relevanz hin untersuchen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum d s Verlags öbv

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